Einleitung: Nicht-Abschiebbarkeit und Duldung
Die öffentliche Debatte um Migration und Flucht ist stark von einem Denken in binären Kategorien (legal/illegal, regulär/irregulär, anerkannt/abgelehnt) geprägt. Diese Begriffspaare entsprechen den binären Denkmustern und Rechtslogiken, auf denen die aktuelle deutsche und globale Migrationspolitik maßgeblich fußen. Diese Logiken lassen es unter anderem als selbstverständliche Tatsache erscheinen, dass eine Geschichte on the move entweder mit einem Aufenthaltsrecht oder mit einer Ausreise endet. Tatsächlich folgt der bloßen Verweigerung eines Aufenthaltsrechts vonseiten staatlicher Behörden und einer Aufforderung zur Ausreise mitnichten automatisch auch eine Ausreise – und der Unmöglichkeit einer Abschiebung folgt mitnichten automatisch ein Aufenthaltsrecht. Zwischen dem Entweder und dem Oder, zwischen Aufenthaltsrecht und Ausreise liegen zahlreiche Konstellationen und Einzelschicksale, die dieser dichotomen Logik des Migrationsregimes widersprechen.
Um dieses ‚Dazwischen‘ zu verwalten, wurde in der BRD 1965 die sogenannte Duldung eingeführt. Die Ausstellung einer Duldung bedeutet, dass der Staat die bloße Anwesenheit einer Person anerkennt, ohne deren Verpflichtung, das Land zu verlassen, aufzuheben. Der Aufenthalt der betreffenden Person gilt weiterhin als ‚irregulär‘ und die drohende Möglichkeit der Abschiebung bleibt unangetastet. Insofern bezeichnet das Instrument der Duldung nicht nur eine Form der staatlichen Verwaltung, sondern auch die Produktion einer spezifischen ‚Irregularität‘ während des Aufenthalts auf dem Staatsgebiet. Der gelebte Alltag von geduldeten Personen ist gekennzeichnet durch ihre grundsätzliche „deportability“ (de Genova 2002), das heißt die bleibende Möglichkeit der Abschiebung, die wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen hängt (Naiumad et al. 2019).
Geduldet werden Personen dann, wenn sie nicht abschiebbar sind. Es gibt vielfältige Gründe dafür, warum Abschiebungen und andere erzwungene Ausreisen (z.B. Dublin-Überstellungen1) nicht durchgesetzt werden können. Diese lassen sich in „rechtliche“ und „tatsächliche“ Gründe unterscheiden (EMN/BAMF 2016: 21; Ellermann 2008; Rosenberger et al. 2018). Dazu zählen zielstaatenbezogene Abschiebeverbote, fehlende Dokumente, medizinische Gründe, mangelnde zwischenstaatliche Kooperation und nicht zuletzt erfolgreicher Widerstand der Betroffenen selbst. Die Situation, dass Staaten eine Person nicht abschieben, obwohl sie den Aufenthalt einer Person als rechtswidrig ansehen und keinen Aufenthaltstitel zuerkennen, ist in der Praxis mehr Regel als Ausnahme. Man kann in diesem Sinne auch von einer ‚Regularität der Irregularität‘ sprechen. Das Phänomen der Nicht-Abschiebbarkeit stellt einen strukturellen Widerspruch dar zwischen dem staatlichen Souveränitätsanspruch, über Aufenthalt und Ausreise von Nicht-Staatsbürger:innen zu entscheiden, und den rechtlich und faktisch limitierten Möglichkeiten, diesen Anspruch überhaupt durchzusetzen. Die Duldung verwaltet diesen Widerspruch nicht nur. Sie ist auch selbst Ausdruck davon, insofern sie einen Schwebezustand schafft, der weder dem Ziel des Erwerbs eines Aufenthaltstitels noch dem Ziel der Ausreise gerecht wird und damit dem binären Prinzip des ‚Gehens-oder-Bleibens‘ der Migrations- und Asylregime widerspricht.