12 Duldung

ein beitrag von

  • Theresa Schütze

Die Realität der Nichtabschiebbarkeit bildet einen Widerspruch zur grundlegenden Logik des Gehen-Müssens-oder-bleiben-Dürfens von Asyl- und Migrationsregimen. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Duldung als Kategorie des deutschen Rechts und als migrationspolitischem Begriff. Die Duldung verwaltet den Widerspruch der Nichtabschiebbarkeit, indem sie eine Sonderkategorie und einen rechtlichen Schwebezustand erschafft. 1965 in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt, wurde die Duldung seitdem auf eine im internationalen Vergleich beispiellos breite Bevölkerungsgruppe angewendet und hat zur Herausbildung eines eigenständigen Politik- und Diskursfeldes geführt. Dieses Diskursfeld spaltet sich in jüngeren Jahren immer stärker in eine Kriminalisierungslogik einerseits und eine Verwertungslogik andererseits. Der Beitrag beleuchtet diese Diskursentwicklung und deren rechtliche Konsequenzen ebenso wie die historischen Anfänge der Duldung in (West-)Deutschland, geht auf implizite Bedeutungen des Begriffes ein und erläutert, wie der Duldungsstatus als vermeintliches Übergangsinstrument die systematische und de facto langanhaltende Entrechtung Geduldeter bedingt. Dies verdeutlicht, dass die Duldung weit mehr ist als ein technisches Verwaltungsinstrument: Sie spiegelt die grundlegenden Spannungen eines Migrationsregimes wider, das auf der binären Logik von Aufnahme und Abschiebung basiert, aber die Realität der Nichtabschiebbarkeit nicht auflösen kann.

Einlei­tung: Nicht-Abschieb­bar­keit und Duldung

Die öffentliche Debatte um Migration und Flucht ist stark von einem Denken in binären Kategorien (legal/illegal, regulär/irregulär, anerkannt/abgelehnt) geprägt. Diese Begriffspaare entsprechen den binären Denkmustern und Rechtslogiken, auf denen die aktuelle deutsche und globale Migrationspolitik maßgeblich fußen. Diese Logiken lassen es unter anderem als selbstverständliche Tatsache erscheinen, dass eine Geschichte on the move entweder mit einem Aufenthaltsrecht oder mit einer Ausreise endet. Tatsächlich folgt der bloßen Verweigerung eines Aufenthaltsrechts vonseiten staatlicher Behörden und einer Aufforderung zur Ausreise mitnichten automatisch auch eine Ausreise – und der Unmöglichkeit einer Abschiebung folgt mitnichten automatisch ein Aufenthaltsrecht. Zwischen dem Entweder und dem Oder, zwischen Aufenthaltsrecht und Ausreise liegen zahlreiche Konstellationen und Einzelschicksale, die dieser dichotomen Logik des Migrationsregimes widersprechen.

Um dieses ‚Dazwischen‘ zu verwalten, wurde in der BRD 1965 die sogenannte Duldung eingeführt. Die Ausstellung einer Duldung bedeutet, dass der Staat die bloße Anwesenheit einer Person anerkennt, ohne deren Verpflichtung, das Land zu verlassen, aufzuheben. Der Aufenthalt der betreffenden Person gilt weiterhin als ‚irregulär‘ und die drohende Möglichkeit der Abschiebung bleibt unangetastet. Insofern bezeichnet das Instrument der Duldung nicht nur eine Form der staatlichen Verwaltung, sondern auch die Produktion einer spezifischen ‚Irregularität‘ während des Aufenthalts auf dem Staatsgebiet. Der gelebte Alltag von geduldeten Personen ist gekennzeichnet durch ihre grundsätzliche „deportability“ (de Genova 2002), das heißt die bleibende Möglichkeit der Abschiebung, die wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen hängt (Naiumad et al. 2019).

Geduldet werden Personen dann, wenn sie nicht abschiebbar sind. Es gibt vielfältige Gründe dafür, warum Abschiebungen und andere erzwungene Ausreisen (z.B. Dublin-Überstellungen1) nicht durchgesetzt werden können. Diese lassen sich in „rechtliche“ und „tatsächliche“ Gründe unterscheiden (EMN/BAMF 2016: 21; Ellermann 2008; Rosenberger et al. 2018). Dazu zählen zielstaatenbezogene Abschiebeverbote, fehlende Dokumente, medizinische Gründe, mangelnde zwischenstaatliche Kooperation und nicht zuletzt erfolgreicher Widerstand der Betroffenen selbst. Die Situation, dass Staaten eine Person nicht abschieben, obwohl sie den Aufenthalt einer Person als rechtswidrig ansehen und keinen Aufenthaltstitel zuerkennen, ist in der Praxis mehr Regel als Ausnahme. Man kann in diesem Sinne auch von einer ‚Regularität der Irregularität‘ sprechen. Das Phänomen der Nicht-Abschiebbarkeit stellt einen strukturellen Widerspruch dar zwischen dem staatlichen Souveränitätsanspruch, über Aufenthalt und Ausreise von Nicht-Staatsbürger:innen zu entscheiden, und den rechtlich und faktisch limitierten Möglichkeiten, diesen Anspruch überhaupt durchzusetzen. Die Duldung verwaltet diesen Widerspruch nicht nur. Sie ist auch selbst Ausdruck davon, insofern sie einen Schwebezustand schafft, der weder dem Ziel des Erwerbs eines Aufenthaltstitels noch dem Ziel der Ausreise gerecht wird und damit dem binären Prinzip des ‚Gehens-oder-Bleibens‘ der Migrations- und Asylregime widerspricht.

Zu Beson­der­heit und Allge­mein­heit der deut­schen Duldung

Insbesondere seit Anfang der 2000er Jahre haben auch eine Reihe anderer EU-Mitgliedsstaaten spezielle aufenthaltsrechtliche Zwischenkategorien für nicht-abschiebbare Personen geschaffen (EMN 2021: 6; Heegaard Bausager et al. 2013). So haben beispielsweise Österreich, Tschechien, Frankreich, Griechenland, Ungarn, Luxemburg, Polen, Slowenien, die Slowakei und Rumänien unterschiedliche Instrumente und Regelungen etabliert, die den Zustand der Nichtabschiebbarkeit mehr oder weniger umfassend formalisieren. In vielen anderen Staaten hingegen prägt der Schwebezustand zwischen Aufenthaltsrecht und Ausreise migrantische Lebensrealitäten, ohne jedoch im Recht zu existieren. Dabei hat sich für die Formalisierung des Status quo der Nicht-Abschiebbarkeit in den diversen Staaten der Überbegriff des tolerated stay (geduldeter Aufenthalt) etabliert, womit sich die ‚Duldung‘ zumindest begrifflich internationalisiert hat. Was dann aber im jeweiligen Nationalstaat konkret unter diese Kategorie des tolerated stay fällt, ist wiederum höchst uneinheitlich, nicht zuletzt, weil der Umgang mit nichtrückführbaren Personen auf EU-Ebene nur äußerst rudimentär geregelt ist (Eckert 2021). Was bleibt, ist ein unübersichtliches Nebeneinander von Zwischen- oder Sonderkategorien und -regelungen sowie prekären Rechtssituationen Betroffener.

Innerhalb dieser Konstellation sticht das deutsche Konzept der Duldung jedoch deutlich hervor, denn nirgendwo in der EU finden vergleichbare Kategorien so breite Anwendung wie in Deutschland. So bewegen sich Fallzahlen der unterschiedlichen Formen geduldeten Aufenthalts in den meisten Ländern unter 1000 Ausstellungen jährlich bzw. unter 1000 Betroffenen (Gesamtgruppe am Stichtag) (Heegaard Bausager et al. 2013; Pestana 2012). Während der Phase der Massenduldung von de facto Geflüchteten aus den ehemals jugoslawischen Ländern in den 1990er Jahren waren in Deutschland dagegen über 300.000 Personen geduldet.2 Aktuell sind es knapp 200.000, trotz verschiedener Anläufe seit den 2000er Jahren, wirksame Bleiberechtsregelungen für Langzeitgeduldete zu schaffen (Schütze 2019), inklusive dem kürzlich eingeführten sogenannten Chancenaufenthaltsrecht.

In Österreich wurde 2004 mit der Einführung der Duldungskarte die deutsche Begrifflichkeit direkt übernommen. Aber auch dort gibt es keinen vergleichbaren Duldungsdiskurs oder gar eine vergleichbare eigenständige Duldungspolitik wie in Deutschland. Durch ihr lang anhaltendes Bestehen und ihre enorme quantitative Relevanz ist die Duldung in Deutschland ein ganz eigenes Diskursfeld, in dem Parteien und andere Akteur:innen um die inhaltliche Besetzung kämpfen. Darin werden Geduldete unterschiedlich markiert: als wirtschaftliche Hoffnungsträger:innen, als Geflüchtete zweiter Klasse, als kriminelle Identitätsvertuscher:innen oder als Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Dieser Beitrag widmet sich daher im Folgenden der deutschen Duldungsdebatte. Zunächst wird die historische Einführung der Duldung als rechtliche Kategorie in Deutschland beleuchtet, anschließend werden der Duldungsbegriff und seine semantischen Implikationen besprochen. Daraufhin wird dargestellt, wie der zugespitzte Duldungsdiskurs sich in den letzten Jahren zwischen den Motiven der Kriminalisierung und einer Verwertungslogik bewegt, und endet mit einer Kritik an der Duldung als zeitlich entgrenztem Entrechtungsmechanismus und dem Ausblick auf eine mögliche Bearbeitung.

Ursprünge der Duldung und umstrit­tene Zeit­lich­keit

Die Duldung wurde in der Bundesrepublik Deutschland im Zuge der damaligen Reform des Ausländergesetzes (§ 16 AuslG) von 1965 eingeführt. Im Gesetzesentwurf von 1962 ist zu lesen:

„In der Vergangenheit war die Rechtsstellung derjenigen Ausländer, die sich nicht im Bundesgebiet aufhalten durften, deren Abschiebung aber z.B. aus politischen oder menschlichen Gründen nicht vollzogen wurde, nicht geregelt. Um den Aufenthalt solcher Ausländer bis zu ihrer Abschiebung zu legalisieren […], wird im Entwurf das Institut der Duldung eingeführt.“ (BT-DS 04/868: 11)

Weiter heißt es:

„Der Ausländer wird für die Zeit, während der er nicht abgeschoben wird, lediglich geduldet. Diese Regelung berechtigt den Ausländer nicht zum Aufenthalt, ermöglicht ihm aber, sich während der Duldung im Bundesgebiet aufzuhalten, ohne mit den Gesetzen in Konflikt zu kommen.“ (Ebd.: 16)

Die Einführung der Duldung in der Bundesrepublik war von konkreten gesellschaftspolitischen Umständen geprägt. Einerseits spielte die außenpolitische Beziehung zur Sowjetunion und zu kommunistischen Regimen, wie jenem in Vietnam, eine zentrale Rolle bei der Entstehung der Duldung. In dem vorangegangenen Zitat kommt dieser Umstand darin zum Ausdruck, dass explizit „politische Gründe“ erwähnt werden, die einer Abschiebung entgegenstehen, was insbesondere im Hinblick auf Geflüchtete aus den entsprechenden Ländern zu verstehen ist. In vielen Fällen wurde diesen Geflüchteten zwar kein internationaler Schutz gewährt, gleichzeitig aber hätten Abschiebungen in diese Länder dem außenpolitischen Image der Bundesrepublik geschadet und gesellschaftlichen Widerstand hervorgerufen (Franz 1964; BT-DS 04/84; BT-DS 07/127; BT-DS 13/8748). Unter anderem war es also dieses Spannungsverhältnis zwischen innenpolitischen und außenpolitischen Interessen, das der Einführung der Duldung zugrunde lag.

Andererseits hatte auch eine verstärkte Orientierung an den Menschenrechten in der Nachkriegszeit Einfluss darauf, dass sich die Bundespolitik mit dem rechtlichen Vakuum befasste, das sich durch unzureichende internationale Schutzmechanismen und eine gleichzeitig inkonsistente Abschiebepraxis ergibt (van Houte et al. 2023) und das Phänomen der Nichtabschiebbarkeit grundsätzlich kennzeichnet. Entsprechend fiel in diese Phase auch die Verankerung des Grundrechts auf Asyl im Grundgesetz (Müller 2010: 145). Einzelne Politiker:innen erkannten an, dass die mangelnde Rechtsklarheit auch aus Sicht Betroffener problematisch war, weil eine Situation, in der sie nicht gehen konnten, aber auch nicht bleiben durften, einen notwendigen Gesetzeskonflikt provozierte (BT-DS 04/868: S.11, 16). Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, wie es dazu kam, dass in der Gesetzesbegründung die Duldung durchaus auch als Kompromiss im Sinne Betroffener dargestellt wird. Gleichzeitig wird deutlich, dass jemand der geduldet wurde, weiterhin als prinzipiell unerwünscht und als Sonderfall zu verstehen war. Der Ausdruck „lediglich geduldet“ betonte die Intention, eine Sonderkategorie zu schaffen, die nicht nur außerhalb, sondern auch unterhalb des Gast- oder Ausländerrechts angesiedelt war, welches an sich schon eine klare Unterscheidung zwischen dem ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘ setzte.

Synonym zum Duldungsbegriff findet sich in politischen und rechtlichen Debatten und Texten auch die Bezeichnung „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“. Was darin noch zusätzlich zum Ausdruck kommt, ist die „Fiktion des temporären Aufenthalts“ (Schütze 2022), die der Konzeption der Duldung innewohnt. Mit anderen Worten: Die Bezeichnung weist darauf hin, dass die Duldung ursprünglich als behördliches Instrument zur Administration einer (kurzen) Übergangsphase konzipiert wurde. Die Realität der Duldung sieht jedoch oft anders aus, was sich in der Häufigkeit von sogenannten Kettenduldungen zeigt, die in politischen Debatten um die Duldung zentral und dabei hochgradig umstritten sind. ‚Kettenduldung‘ bedeutet, dass bei Ablauf einer alten Duldung immer wieder eine neue ausgestellt wird. Zwar ist die Geltungsdauer einer Duldung rechtlich begrenzt, nicht aber die Häufigkeit ihrer wiederholten Ausstellung. Das führt dazu, dass viele Menschen bei andauernder Nichtabschiebbarkeit und gleichzeitig fehlender Möglichkeit, einen anderen Status zu erhalten, Jahre und Jahrzehnte in Deutschland geduldet bleiben. Trotz dieser Realität halten Politiker:innen immer wieder rhetorisch daran fest, dass eine Duldung nur vorübergehend sein sollte, was als eine der wichtigsten argumentativen Grundlagen für die massiven Rechtseinschränkungen Geduldeter dient (Schütze 2019: 60f.). Über welchen Zeitraum ‚vorübergehend‘ sich dabei erstrecken soll, wird kaum näher definiert.

Entsprechend richtet sich Kritik an der Duldung auch und gerade gegen die jahre- bis jahrzehntelange Entrechtung von Individuen, die durch die Praxis der ‚Kettenduldungen‘ ohne Verbesserung des Aufenthaltsstatus ermöglicht wird. Den Geduldeten bleibt keine andere Wahl, als sich zu gedulden. Dieser Zustand bedeutet für Betroffene andauernde Unsicherheit und äußerst prekäre Existenzbedingungen, denn die Duldung als besonderer Rechtsraum befördert massive staatliche Kriminalisierungs- und Entrechtungsmechanismen (Naiumad/Korvensyrjä 2019). Besonders berüchtigt ist die umstrittene Residenzpflicht, die 1990 eingeführt wurde. Sie verpflichtet Personen mit einer Duldung unter Strafandrohung dazu, sich nur in einem bestimmten Gebiet aufzuhalten – in der Regel im politisch-administrativen Bezirk, in dem die zuständige Ausländerbehörde liegt. Weitere wichtige Mechanismen sind Kürzungen oder der Ausschluss von Sozialleistungen. Das zentrale Regelwerk in diesem Zusammenhang ist das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Das 1993 zuerst verabschiedete Gesetz gliederte Personen mit einer Duldung, ebenso wie international Schutzsuchende, aus der allgemeinen Sozialgesetzgebung aus und senkte die Leistungen erheblich. In den Folgejahren wurde das Gesetz stetig verschärft und Leistungen so weit eingeschränkt, dass sich sogar die Judikative einschaltete.3

Duldungs­be­griff: Wer oder was ist hier eigent­lich das Problem?

Ein Blick auf den Begriff der Duldung selbst hilft, verschiedene Konnotationen und eine einseitige politische Problemwahrnehmung von Nichtabschiebbarkeit freizulegen. Das Verb ‚dulden‘ suggeriert, dass etwas hingenommen, jedoch nicht als richtig, gut oder wünschenswert anerkannt wird. Tatsächlich ließe sich aber argumentieren, dass das, was die Duldung letztendlich hinnimmt, weniger ein ‚Fehlverhalten‘ von als ‚irregulär‘ oder ‚ausreisepflichtig‘ konstruierten Migrant:innen ist, sondern vielmehr die strukturellen Widersprüche eines Systems, aus dem sich dieser Zwischenstatus ergibt. Nichtsdestotrotz ist auch die wissenschaftliche Debatte stark geprägt von einer Kontrollperspektive. Das zeigt sich z.B. in der unkritischen Übernahme des Begriffs „deportation gap“, der 2008 von Matthew Gibney eingeführt wurde (Gibney 2008). Er suggeriert, dass der Kern des Problems in der defizitären Effizienz des Abschieberegimes liege statt in der mangelnden Rechtssicherheit und Benachteiligung der Betroffenen in diesem Schwebezustand, weshalb Korvensyrjä (2019) auch von einem „dehumanisierenden“ Diskurs spricht.

Außerdem impliziert der Begriff der Duldung Passivität, indem er suggeriert, dass gegen das, was als problematisch oder illegitim wahrgenommen wird, erstmal nichts unternommen wird. Entsprechend zu dieser Konnotation des Begriffs ist auch die Politik der Duldung praktisch darauf ausgerichtet, einen (Dauer-)Zustand der Passivität hervorzurufen (Jensen 2023: 131). So etwa durch die Residenzpflicht und darauf aufbauende Politiken der Isolation in Gemeinschaftsunterkünften fernab von städtischer Infrastruktur, die zentrale Elemente der aktuellen Duldungspolitik ausmachen. Diese Politik trifft zwar nicht alle Geduldeten gleichermaßen, prägt aber maßgeblich ihre Lebensrealitäten und produziert rassistisch strukturierte Orte abseits der Mehrheitsgesellschaft (Naiumad et al. 2019). Ähnlich wie Regelungen, die Geduldete von Sozialleistungen, Sprachkursen und anderen Maßnahmen ausschließen, kann dies als Politik der aktiven Desintegration verstanden werden, die darauf abzielt, den Prozess des Ankommens reversibel zu halten und so den Aufenthalt potenziell leichter beenden zu können (Mohr 2005: 391). Das bedeutet, während der ultimative territoriale Ausschluss durch eine Abschiebung zwar nicht erfolgt, verhindert die Duldung doch die aktive gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen. Entsprechend problematisieren politische Debatten im Kontext der Duldung die mögliche ‚Verwurzelung‘ von Personen, die schon lange Zeit geduldet oder als Geduldete in Deutschland aufgewachsen sind (BT-DS 16/7600). Was hier als Problem wahrgenommen wird, ist, dass die ausgrenzende rechtliche Kategorie der:des ‚Ausreisepflichtigen‘ und ‚lediglich Geduldeten‘ durch eine Realität der Teilhabe in Frage gestellt und die Grenzziehungen ins Wanken gebracht werden. Entsprechend sehen sich konservative und rechte Akteur:innen immer wieder veranlasst, diese Grenzen rhetorisch zu verteidigen, wie in folgendem Zitat des CDU-Bundestagsabgeordneten Reinhard Grindel deutlich wird: „Wer nie einen legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland gehabt hat, kann nicht in unserem Land verwurzelt sein“ (BT-DS 17/93: 10645). Auf der anderen Seite werden linke Politiker:innen und migrantische Unterstützungsorganisationen nicht müde, die faktische ‚Verwurzelung‘ von geduldeten Personen zu betonen, und kritisieren die fehlenden Teilhabemöglichkeiten als Verletzung individueller Rechte. Was zwischen diesen Positionen verhandelt wird, ist das Verhältnis zwischen ‚dulden‘ und ‚anerkennen‘. Während die einen das Dulden unbedingt als Gegenteil von Anerkennung ansehen wollen, beharren die anderen darauf, dass es eine Vorstufe der Anerkennung sei.

Duldungs­dis­kurs: zwischen Krimi­na­li­sie­rung und Verwer­tungs­lo­gik

Blicken wir auf aktuellere Entwicklungen und Themen der deutschen Duldungspolitik, so wird außerdem deutlich, dass sie stark von neoliberalen Nützlichkeitsdiskursen, aber auch von Sicherheitsdiskursen überformt ist. Diese beiden Diskurse haben seit den späten 2000er Jahren die zwei komplementären Stereotype der ‚nützlichen‘ und der ‚gefährlichen‘ Geduldeten hervorgebracht, die mit gegensätzlichen Zuschreibungen, Erwartungen und Stigmatisierungen einhergehen. Nützlichkeitsdiskurse kreisen um Geduldete als Fachkräfte und Auszubildende. Dabei haben sie in den letzten 30 Jahren eine deutliche Kehrtwende vollzogen. In den 1990er Jahren war die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit einer Duldung noch eine politisch marginalisierte Forderung der linken und wirtschaftsliberalen Opposition. Das Blatt wendete sich in den 2000er Jahren: Die Problematisierung ‚ungenutzter‘, dabei durchschnittlich sehr junger geduldeter Arbeitskräfte rückte angesichts des vielzitierten deutschen Fachkräftemangels in den Vordergrund politischer Debatten. Im Kern der Nützlichkeitsdiskurse wurde immer wieder die Figur der:des geduldeten Azubi in einem Mangelberuf heraufbeschworen, als Hoffnungsträger:in einer gelungenen Arbeitsmarktintegration in der Bundesrepublik. Ab 2008 folgten schrittweise Erleichterungen des Arbeitsmarktzugangs und Förderprogramme für Personen mit Duldung, 2015 wurde die „Ausbildungsduldung“ (§ 60c AufenthG) und 2020 die „Beschäftigungsduldung“ (§ 60d AufenthG) eingeführt, die Beschäftigten mit Duldung und vor allem den Unternehmen, die sie beschäftigten, etwas mehr Rechts- und Planungssicherheit geben sollten. Wobei zu betonen ist, dass auch diese Duldungen rechtlich nicht vor einer Abschiebung schützen.

Gleichzeitig gewann ab 2015 die kriminalisierende Rede von den ‚Gefährdern‘ in parlamentarischen wie medialen Debatten stark an Gewicht. Sie trieb eine Stigmatisierung von Geduldeten als tendenziell delinquente und mit Misstrauen zu behandelnde Gruppe voran und resultierte in Gesetzesinitiativen, welche die Bewegungsfreiheit, die soziale Unterstützung und Entfaltungsmöglichkeiten der Betroffenen weiter einschränken sollten. Befeuert wurde die Gefährderdebatte insbesondere durch den Anschlag des geduldeten tunesischen Islamisten Anis Amri auf einen Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016. Auf rechtlicher Ebene gipfelte sie daraufhin im Gesetz zur verbesserten Durchsetzung der Ausreisepflicht, das 2017 vom Bundestag verabschiedet wurde. Insgesamt vereinte die Debatte bereits ältere, vor allem von konservativer und rechter Seite ins Feld geführte und verallgemeinerte Vorwürfe der Identitätsverweigerung, Mitwirkungspflichtverletzung und prinzipiellen Selbstverschuldung von sogenannten Ausreisepflichtigen mit einer neuen „moralischen Panik“ gegenüber Geduldeten als Gefahr für die öffentliche Sicherheit (Korvensyrjä 2018).

Während sich einerseits die Notwendigkeit einer schnelleren Arbeitsmarktintegration von potenziell ‚nützlichen‘ Migrant:innen als vager Konsens etabliert hat, wird andererseits die Entrechtung der als ‚illegal‘ oder ‚gefährlich‘ Kategorisierten weiter vorangetrieben. Widersprüche zwischen den Logiken der Kriminalisierung und der Arbeitskraftverwertung werden seit Mitte der 2010er Jahren vonseiten der Bundespolitik mehr und mehr aufgelöst, indem eine Differenzierung innerhalb der Gruppe der Geduldeten vorgenommen wird. Dies spiegelt sich auf der diskursiven Ebene in der Gegenüberstellung ‚guter Azubi‘ vs. ‚böser Gefährder‘ wider. Auf Policy-Ebene hat dies zu einer Schichtung der Rechte innerhalb der Gruppe Geduldeter geführt, also zu konkreten Abstufungen insbesondere auf der Basis zugeschriebener Selbstverschuldung daran, nicht abgeschoben zu werden, der Einstufung als ‚Gefährder(:in)‘ oder ökonomischer Integrationsleistungen. Daraus folgen Konsequenzen in Bezug auf Legalisierungsmöglichkeiten (keine, vorübergehend oder dauerhaft), die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, wie z.B. Residenzpflicht oder gar Inhaftierung, die Einschränkung des Grundrechts auf Privatsphäre und Datenschutz und den Zugang zu Sozialleistungen, was sowohl die Höhe als auch die Form betrifft (Bargeld oder Sachleistungen).

Kritik und Ausblick

Dafür einzutreten, dass bestimmte Personen ‚geduldet‘ werden sollen, bedeutet, darauf zu beharren, dass sie eigentlich nicht da sein sollten. In dem Begriff der Duldung ist bereits eine Stigmatisierung als delinquent und unberechtigt sowie eine Markierung als Ausnahmefall angelegt. Auf dieser Grundlage wird geduldeten Personen gesellschaftliche Teilhabe verwehrt und, wenn sie dennoch gelebt wird, erschwert und skandalisiert. Die Duldung schafft einen rechtlichen Zwischenraum, Schwebe- oder Grenzzustand, ohne an dem Prinzip zu rütteln, das die Situation der Nichtabschiebbarkeit hervorbringt. Stattdessen baut sie auf der binären Logik des Migrationsregimes und dessen zentralem Akteur auf, dem souveränen Staat, der entweder einen Aufenthaltsstatus zuerkennt oder abschiebt. Gleichzeitig werden Menschen als lediglich Geduldete abgewertet, die von den Widersprüchen des Systems in eine ausweglose Situation gebracht werden.

Ein Potenzial des Duldungsstatus und anderer aufenthaltsrechtlicher Zwischenkategorien ist es, dass sie den eklatanten Widerspruch zwischen dem Anspruch von Staaten, Abschiebungen als politische Lösung für unautorisierte bzw. ‚unerwünschte‘ Mobilität durchzuführen, und der offensichtlichen Unmöglichkeit, einen effizienten Abschiebeapparat zu etablieren, sichtbar machen (ob ein solcher Apparat wünschenswert wäre, steht selbstverständlich auf einem anderen Blatt). Dieser Widerspruch manifestiert sich in einer wachsenden Zahl irregularisierter Migrant:innen, die entrechtet, aber nicht-abschiebbar in Deutschland leben. Die Duldung trägt also potenziell dazu bei, dass dieser strukturelle Widerspruch in der öffentlichen Debatte nicht (mehr) übergangen werden kann. Als praktisches Instrument ist die Duldung einschließlich ihrer Behördenpraxis allerdings so umstritten, dass unterschiedliche Akteur:innen seit Langem ihre Abschaffung fordern. Unabhängig von der Frage, ob das Instrument aus migrantischer Perspektive die Exklusion erhält oder potenziell nützlich ist, lässt sich als immanente Kritik zusammenfassen: Ein Hauptproblem der Duldung und ihr größter Widerspruch ist es, dass sie zwar als Übergangsstatus konzeptualisiert ist, aber unbegrenzt verlängert werden kann. Im Sinne sowohl der Rechtssicherheit als auch der Menschenwürde der Betroffenen wäre deshalb zumindest die Einführung eines bundeseinheitlichen Mechanismus notwendig, der die Erneuerung von Duldungen begrenzt und Geduldeten Möglichkeiten eröffnet, einen stabilen Aufenthaltsstatus zu erlangen und so den Zustand ihrer geduldeten Entrechtung nach einer konkret definierten Maximaldauer zu beenden.

Lite­ra­tur

Zum Weiterlesen

Castañeda, Heide (2010): „Deportation Deferred. ‚Illegality‘, Visibility, and Recognition in Contemporary Germany“, in: Nicholas De Genova/Nathalie Peutz (Hg.), The Deportation Regime. Sovereignty, Space, and the Freedom of Movement, Durham: Duke University Press, S. 245–261.

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Zitierte Literatur

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Korvensyrjä, Aino (2019): „Activist Perspectives on the ‚Made in Germany‘ Culture of Deportation“, in: Vapaa Liikkuvuus/Free Movement (Website), https://vapaaliikkuvuus.net/2019/02/06/aino-korvensyrjaactivist-perspectives-on-the-made-in-germany-culture-of-deportation/ vom 28.11.2024.

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Zitierte Bundestagsdrucksachen

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BT-DS 04/84: Plenarprotokoll, Sitzung des Bundestags, vom 09.10.1963.

BT-DS 07/127: Plenarprotokoll, Sitzung des Bundestags, vom 06.11.1974.

BT-DS 13/8748: Schriftliche Fragen und eingegangene Antworten der Bundesregierung, vom 10.10.1997.

BT-DS 16/7600: 7. Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, vom 20.12.2007.

BT-DS 17/93: Plenarprotokoll, Sitzung des Bundestags, vom 24.02.2011.

BT-DS 18/2592: Gesetzesentwurf (Bundesregierung): Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes, vom 22.09.2014.

Fußno­ten

  1. 1

    Eine Dublin-Überstellung bezeichnet die Abschiebung einer Person in einen anderen EU-Mitgliedsstaat, weil dieser laut Dublin-Verordnung (Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates) für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist.

  2. 2

    Zur Relevanz der Duldung im Kontext der Balkankriege siehe Mitric (2009).

  3. 3

    2010 erklärte ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Höhe der Geldleistungen im AsylbLG als unvereinbar mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (BT-DS 18/2592).

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