13 Ethni­zi­tät

ein beitrag von

  • Antonie Schmiz

Alltagssprachlich finden sowohl der Begriff ‚Ethnizität‘ als auch das zugehörige Adjektiv ‚ethnisch‘ im Deutschen kaum Verwendung. Gerade in der Sprecher:innenposition der von Rassismus betroffenen Gruppen haben sich eher englischsprachige Begriffe durchgesetzt. So haben die politische Kategorie race oder die Selbstbezeichnungen People of Colour/PoC oder auch Black People of Colour/BPoc sehr viel wirkmächtigeren Eingang in gesellschaftliche Diskurse erhalten als das problematische Konzept der ‚Ethnizität‘.

In der Forschung werden sowohl die deutschsprachigen Begriffe ‚Ethnizität‘ als auch das zugehörige Adjektiv ‚ethnisch‘ oftmals wie selbstverständlich verwendet. Dabei wird nicht immer reflektiert, dass die Bezeichnung einer Gruppe als ‚Ethnie‘ keineswegs die Realität widerspiegelt, sondern stets das Ergebnis einer Grenzziehung ist. Daher fragt der vorliegende Beitrag, mit welchem Ziel, in welchen Kontexten und anhand welcher Grenzziehungen sich ‚ethnische Gruppen‘ selbst als solche markieren bzw. wann sie von außen (zum Beispiel durch wissenschaftliche Sprache) als solche markiert werden. Damit kontrastiert der Beitrag nicht nur die wissenschaftliche und alltagssprachliche Verwendung des Begriffes. Er arbeitet auch Kontinuitäten, Veränderungen und Unterschiede in seiner Verwendung heraus und grenzt ihn gegenüber den Konzepten ‚Rasse‘ und ‚Kultur‘ in unterschiedlichen Forschungstraditionen und Sprachräumen ab. Anhand verschiedener Beispiele verdeutlicht der Beitrag sowohl die wissenschaftstheoretische Problematik einer Essentialisierung von ‚ethnischen Gruppen‘ durch Grenzziehungsprozesse als auch die Konsequenzen für die bezeichneten Subjekte bzw. Gruppen.

Einlei­tung

„I’m running out of ethnic friends.“
The Moldy Peaches

Das Konzept der ‚Ethnizität‘ ist auf den altgriechischen Begriff éthnos zurückzuführen, der die Zugehörigkeit zu einem Volk in der Außenperspektive bestimmte. Diese Fremdzuweisung verdeutlicht das Othering, das dem Konzept anhaftet, denn „‚Ethnisch‘ sind immer die anderen“ (Timm 2000: 364; vgl. auch Jenkins 1997: 14). Eine Recherche nach frühen Verwendungen von ‚Ethnizität‘ in gängigen Nachschlagewerken führt lediglich zu verwandten Einträgen, u.a. mit dem gleichen Wortstamm. So verweist Herders Konversationslexikon von 1854 auf das Adjektiv ‚ethnisch‘ als heidnisch; Meyers Großes Konversationslexikon von 1905 auf ‚Ethnizismus‘ als den Glauben an mehrere Götter und auf die Ethnologie, die als vergleichende Völkerkunde die Verschiedenheiten in den Kulturverhältnissen der Menschen erforscht. Schließlich definiert der Brockhaus ‚Ethnizität‘ als „in den 1960er-Jahren entstandener Begriff für die Entwicklung von kultureller Abgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen innerhalb von Staaten und darüber hinaus.“ (Brockhaus Online Enzyklopädie 2022). Der Begriff, so heißt es dort, erfahre seine Verbreitung im deutschsprachigen Raum durch die wissenschaftliche Erkenntnis, dass ‚ethnische Zugehörigkeit‘ in den Aufnahmestaaten internationaler Migration weiterhin eine bedeutende Differenzkategorie darstelle. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand ‚Ethnizität‘ (im Folgenden gemeinsam mit den Begriffen ‚ethnische Gruppe‘, ‚Ethnie‘ und ‚ethnisch‘ betrachtet) also Eingang in breitere politische Debatten und ersetzte zunehmend den für die nationalsozialistische Ideologie zentralen Begriff der ‚Rasse‘. Die deutlichste Konjunktur im politischen Sprachgebrauch erfuhr der Begriff ‚ethnisch‘ jedoch in den späten 1990er Jahren in Bundestagsdebatten über den Nato-Einsatz im Kosovo als Reaktion auf die dort gewaltvoll ausgetragenen „ethnischen Konflikte“ (Deutscher Bundestag, o.J.). Dies bestätigt eine Recherche im Google Books Ngram Viewer, die für den deutschsprachigen Google-Books-Korpus von 1945 bis 2012 Konjunkturen des Begriffsfeldes in den 1990er Jahren ergibt. So zeigt sich eine weitaus häufigere Verwendung des Adjektivs im Gegensatz zu den zugehörigen Substantiven ‚Ethnie‘ und ‚Ethnizität‘ (Abb. 1).

Abb. 1: Verwendung der Begriffe ‚ethnisch‘, ‚Ethnizität‘ und ‚Ethnie‘ von 1945-2012, Google Ngram Viewer (Zugriff: 14.09.2022).

In der politischen Praxis dient der Begriff ‚ethnisch‘ weiterhin als Kategorie im Antidiskriminierungsrecht, das „Ungleichbehandlung aufgrund der ethnischen Herkunft oder aus rassistischen Gründen“ verbietet (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2022). Migrantische Selbstorganisationen in Deutschland bemängeln jedoch, dass als Grundlage zur Bekämpfung rassistischer Diskriminierung eine Statistik zur ‚ethnischen Herkunft‘ geführt werden müsse, wie es in Großbritannien, Kanada oder den USA gehandhabt werde. Im deutschsprachigen Raum ist das Begriffsfeld kaum alltagssprachlich verankert. Lediglich zeitweise und partikular wurde und wird es im politischen Kontext verwendet. Anders verhält es sich in den USA. Dort bezeichnet das Konzept seit Ende des Zweiten Weltkrieges gesellschaftlich marginalisierte Gruppen und hat Eingang in einen breiteren Sprachgebrauch gefunden (Nally 2009; Glazer/Moynihan 1963: 4f.).

Auf der Grundlage dieser Schlaglichter auf die Begriffsverwendung soll im Folgenden eine Auseinandersetzung mit dem Begriffsfeld aus der Perspektive der Migrationsforschung vorgenommen werden. Darin wird zunächst von der wissenschaftlichen Debatte um ‚ethnische Gruppen‘ ausgegangen, um anschließend ausgewählte angrenzende Konzepte von Kultur und ‚Rasse‘ näher zu betrachten. Daran anknüpfend wird das für die sozialwissenschaftliche Migrationsforschung zentrale Konzept der ‚ethnischen Grenzziehungen‘ vorgestellt. Beschlossen wird der Beitrag mit Blick auf ein konkretes Anwendungsfeld: die Forschung über sogenannte ‚ethnische Ökonomien‘. Damit soll gezeigt werden, dass sich die Bedeutung des Begriffsfeldes sowohl in der deutsch- und englischsprachigen Verwendung als auch im alltagssprachlichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch grundlegend unterscheidet.

Selbst- und Fremd­zu­schrei­bung

Max Webers Definition einer ‚ethnischen Gruppe‘ dient aktuellen sozialwissenschaftlichen und postkolonialen Studien häufig als Grundlage und als Reflexionsfolie für die Auseinandersetzung mit den Begriffen ‚Ethnie‘ und ‚ethnisch‘: „Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, dass dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht ‚Sippen‘ darstellen, ‚ethnische‘ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinschaft objektiv vorliegt oder nicht.“ (Weber 1980 [1922]: 236)

In Webers Begriffsdefinition ist nicht nur die Abgrenzung der ‚ethnischen Gruppe‘ zur Sippe bemerkenswert. Vor allem das subjektive Gefühl der Zugehörigkeit zu einer (Abstammungs-)Gemeinschaft durch eine gemeinsame Kultur ermöglicht für ihn die Gruppenbildung. Problematisch ist jedoch, dass sich Weber in seiner Definition nicht nur auf kulturelle Praktiken, die als ‚typisch‘ für die Gemeinschaft empfunden werden, und den Mythos einer gemeinsamen Herkunft bezieht, sondern auch auf phänotypische Ähnlichkeiten (ebd.). Dieser Hinweis in Webers Werk deutet bereits auf die Überschneidung mit dem Konzept ‚Rasse‘ und dessen unzureichender Problematisierung hin. So definiert Weber ‚Rasse‘ als Sonderfall von ‚ethnischen Gemeinschaften‘, die sich über „den äußeren Habitus, insbesondere körperliche Merkmale definieren“ (Bös 2010: 46).

Die Migrationsforschung bezieht sich für die Problematisierung des Begriffsfeldes häufig auf den norwegischen Sozialanthropologen Fredrik Barth. In seinem Buch „Ethnic Groups and Boundaries“ (1969a) überwindet er die zuschreibenden Elemente des Begriffsverständnisses von Weber, indem er die Zugehörigkeit zu einer ‚ethnischen Gruppe‘ als Wechselwirkung von Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung konzipiert (Barth 1969b: 11; vgl. auch Jenkins 1997: 53). Dabei vollzieht sich Identitätsbildung immer in einem dialektischen Aushandlungsprozess zwischen der Feststellung von Gemeinsamkeiten und Differenzen (Jenkins 1997: 13). Aus dieser Herleitung können viele für die Migrationsforschung zentrale Fragen beantwortet werden, zum Beispiel wann, mit welchem Ziel und in welchen Kontexten Kategorisierungen vorgenommen werden und somit Differenz beobachtet, markiert und gesellschaftlich wirksam wird (Müller/Zifonun 2010).

‚Eth­ni­zi­tät‘ und Kultur

Das Verständnis von ‚Ethnizität‘ ist eng an einen sich wandelnden Kulturbegriff geknüpft. Webers Begriffsdefinition einer ‚ethnischen Gruppe‘ bezieht sich auf einen Kulturbegriff, der Kultur im Sinne einer protestantischen Arbeitsethik als Impuls für Zukunftsentwürfe, gesellschaftlichen Wandel und für den Ausbruch aus puritanischen Lebensvorstellungen versteht (Jaeger 1992: 372ff.). Ein solches normatives und gleichermaßen essentialistisches Kulturverständnis wird in der Migrationsforschung vielfach infrage gestellt: So wird Kultur vielmehr als dynamischer Prozess verstanden und zur empirischen Frage gemacht (vgl. u.a. Baumann 1996; Hannerz 1993). In einer solchen reflexiven Migrationsforschung wird dann relevant, „unter welchen Bedingungen und sozialen Zusammenhängen Akteure auf welche Art und Weise mit Kultur argumentieren, in welchen politischen und sozio-ökonomischen Kontexten dies geschieht und welche Ziele damit verfolgt werden“ (Dahinden 2014: 101).

Dieses neuere Kulturverständnis ermöglicht es, ‚Ethnizität‘ und ‚ethnische Gruppen‘ zu de-essentialisieren, wie die postkoloniale Theorie erfolgreich gezeigt hat. Deren Vertreter:innen kritisieren, dass die synonyme Rede von ‚ethnischer‘ und kultureller Identität problematisch sei, weil sie dazu neige, kulturelle Differenzen zwischen ‚ethnischen Gruppen‘ als unveränderlich und gegeben zu beschreiben – und auf diese Weise festzuschreiben. Das zeigt sich im wissenschaftlichen Kontext, wenn ‚ethnische Gruppen‘ oder Kultur gleichzeitig als Erklärung und zu Erklärendes herangezogen werden.

Kultur sei konstitutiv für das soziale und politische Leben der Gegenwart, betont Stuart Hall. Sein Kulturbegriff basiert auf dem grundlegenden Gedanken des Anti-Essentialismus, der jede Suche nach einer ursprünglichen oder essentiellen Bedeutung von Kultur ablehnt. Nach Hall erhalten Objekte und Ereignisse erst durch Bezeichnungen und Klassifikationssysteme eine Bedeutung und werden damit zu diskursiven Phänomenen in Kulturindustrien und kulturellen Repräsentationsregimen (Winter 2006). Hall arbeitet in seinem Nachdenken über „Neue Ethnizitäten“ heraus, dass Schwarz-sein eine Vielfalt sozialer Erfahrungen und Subjektpositionen umfasst und es sich um eine politisch und sozial konstruierte Kategorie handelt (Hall 2018: 15-25). Daher schlägt er vor, den Begriff ‚Ethnizität‘ zu dekolonisieren und als eine Sprecher:innenposition anzuerkennen, die sich aus einer bestimmten Geschichte, aus Erfahrungen und subjektiven Identifikationen ergibt und nicht länger mit der Marginalisierung oder Enteignung anderer Gruppen einhergeht (ebd.).

Diese Forderung Halls kann die Migrationsforschung zur Erklärung der Herausbildung von marginalisierten Sprecher:innenpositionen im Kampf gegen (rassistische) Diskriminierung und gesellschaftliche Exklusion heranziehen.

‚Eth­nie‘ und ‚Ras­se‘

Die postkoloniale Position Halls legt eine Abgrenzung vom angrenzenden Konzept der ‚Rasse‘ nahe (Wimmer 2008). Aufschlussreich ist an dieser Stelle die Begriffsentwicklung in der anglofonen Wissenschaftssprache: Von 1920 bis 1944 etablierten sich die Race Relations Studies. Ihr anfänglicher Fokus auf die damalige Einwanderung ‚ethnischer Gruppen‘ verlagerte sich später auf die Lebenswelten von Afroamerikaner:innen. Hier sind auch erste Verwendungen des Konzeptes ‚Ethnizität‘ in der sogenannten Chicagoer Schule der Sozialökologie der 1920er Jahre einzuordnen (Feischmidt 2016). Ziel der darin verorteten Community Studies war es, die Bevölkerungszusammensetzung Chicagos unter anderem nach ihrer ‚Ethnizität‘ zu erheben und davon ausgehend Interaktionen und Konkurrenzen zwischen ‚ethnischen Gruppen‘ zu erkennen.

Im Zeitraum von 1945 bis 1968 änderte das Feld seinen Namen in die sogenannte Race and Ethnic Relations-Forschung, die Assimilationsprozesse mit einem Fokus auf Afroamerikaner:innen untersuchte und diese damit zur ‚Einwanderungsgruppe‘ machte. Während ‚Ethnizität‘ bis dahin als kulturelles Phänomen, race jedoch biologisch verstanden wurde, kam es in den 1960er Jahren durch die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung und die erkämpfte kulturelle Selbstbehauptung und Aufdeckung von Diskriminierung zu einer begrifflichen Neuaushandlung. Die damit verbundene Aneignung von race als Ausdruck einer spezifischen (historischen) Lebenserfahrung ermöglichte eine kollektive politische Identifikation (Glazer/Moynihan 1963; Bös 2010: 47). Soziologische Forschung verwendete entsprechend in den 1970er und 1980er Jahren den Begriff race im Zusammenhang mit Afroamerikaner:innen. Die Mehrheit der US-Gesellschaft bestand nun aus ‚ethnischen Gruppen‘ und bezeichnete sich aus diesem Grund als ‚multikulturell‘, was als neuer Normalzustand wahrgenommen wurde (Bös 2010: 50).

Anders verhält es sich mit dem deutschsprachigen Begriff ‚Rasse‘. Er wird seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für die Kategorisierung von Menschen weitgehend vermieden. In der Wissenschaft ist er seit den 1990er Jahren oftmals durch ‚Ethnie‘, ‚ethnische Gruppe‘ oder auch ‚ethnische Minderheiten‘ ersetzt worden (Müller/Zifonun 2010:21). Aufgrund der Definition von ‚Ethnien‘ anhand kultureller Merkmale (wie einer gemeinsamen Sprache, Religion, ‚Abstammung‘ und einem gemeinsamen Habitus) und der Essentialisierung dieser Merkmale haftet dem Begriff weiterhin ein enger Bezug zum biologisch-genetischen Rassebegriff an. Erst seit der breiteren Wahrnehmung von postkolonialen und intersektionalen Perspektiven erfährt der Begriff race als analytisches Konzept in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften – teils synonym, teils in analytischer Abgrenzung zu ethnicity – eine neue Rezeption (Müller/Zifonun 2010: 21). Das erlaubt es auch der Migrationsforschung, unter anderem rassistische Diskriminierung in den Blick zu nehmen.

Die Unterscheidung von ethnicity und race in wissenschaftlichen Analysen wird allerdings unter anderem von Andreas Wimmer (2008) problematisiert. Schließlich unterliege sie immer einer Grenzziehung von außen. Zudem könne sie die oftmals gewaltsamen Erfahrungen von ‚ethnischen Gruppen‘ in unterschiedlichen nationalen und regionalen Kontexten nicht ausreichend abbilden, wie am Beispiel der Rassifizierung von ‚Ethnizität‘ in Ruanda und Burundi deutlich geworden sei. Gleichermaßen könne eine analytische Unterscheidung zwischen ‚Rasse‘ als feststehende, auferlegte und exklusive Kategorie und ‚Ethnizität‘ als fluide und freiwillige Selbstzuschreibung Konstellationen nicht gerecht werden, in denen ‚ethnische Gruppen‘ wie Serb:innen im Kosovo oder Albaner:innen in Serbien erzwungene Segregation, Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren (Wimmer 2008: 974).

Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Gemengelage, die eng mit politischen Konstellationen unterschiedlicher Interessen verbunden ist, stellt sich die Frage, auf welcher Basis und durch wen Unterscheidungen vorgenommen und damit Grenzen zwischen ‚ethnischen Gruppen‘ gezogen werden.

Grenz­zie­hun­gen

‚Ethnische‘ Grenzziehungsprozesse (Ethnic Boundary Making) wurden auf verschiedene Arten theoretisiert und vielfach in der Migrationsforschung aufgegriffen. Als wichtiger Vertreter einer konstruktivistischen Perspektive fordert Barth (1969b: 15), den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen von kulturellen Unterschieden wegzulenken und sich stattdessen ‚ethnische‘ Grenzziehungen näher anzuschauen, die zu einer Gruppenbildung führen. Demnach müsse es immer darum gehen, ‚ethnische‘ Differenzierungen selbst zum Analysegegenstand zu machen und diese zu hinterfragen.

Nach Andreas Wimmer (2008) variiere die Art und Weise, wie die Grenze zwischen einem vorgestellten ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘ gezogen werde, von einer Gesellschaft zur anderen erheblich (vgl. Mijic/Parzer 2017). Es hänge davon ab, ob sich die ‚Anderen‘ innerhalb einer Gesellschaft als ‚ethnische Minderheiten‘ verstehen (wie zum Beispiel in Großbritannien) oder aber race die relevante Kategorie der Selbst- und Fremdbeschreibung darstellt (wie zum Beispiel in den USA). Wimmer bringt eine machtkritische Perspektive in die Konzeption von Grenzziehungen ein: Unter anderem Staaten bedienen sich der wechselseitig durch Fremdkategorisierung und Selbstidentifikation zustande gekommenen Grenzen, um ihr ‚eigenes Volk‘ in Form von ‚ethnischen Gruppen‘ zu regieren und als ‚ethnische Minderheiten‘ zu schützen oder zu unterdrücken (Wimmer 2008). In dieser Konzeption kann ‚ethnische‘ Selbstidentifikation als Reaktion auf Unterdrückungen verstanden werden, die ‚ethnischen Minderheiten‘ in Form einer strategischen Essentialisierung dazu dienen kann, ihre Rechte durchzusetzen.

Eine zweite für die Migrationsforschung hilfreiche Theoretisierung von Grenzziehungsprozessen liefern Michelle Lamont und Virág Molnár. Sie verstehen symbolische Grenzen als Unterscheidungen, die von sozialen Akteur:innen vorgenommen werden (Lamont/Molnár 2002: 168). Diese Unterscheidungen würden durch Wertungen, Einstellungen, Praktiken und Muster von Vorlieben und Abneigungen ausgedrückt. Symbolische Grenzen seien dann relevant für die Schaffung von Gruppenzugehörigkeit, aber auch für die Abgrenzung einer Gruppe im Sinne einer (Re-)Produktion von Distinktionsmarkern (zum Beispiel eine authentische ‚ethnische‘ Küche). Für die Migrationsforschung ist relevant, dass symbolische Grenzen in Lamont und Molnárs Konzeption auch zu sozialen Grenzen werden können, die sich in ungleichen Zugängen, Chancen und Verteilungen von Ressourcen manifestieren (ebd.: 168).

Eine Migrationsforschung, die allzu sehr ‚ethnische‘ Grenzziehungsprozesse in den Blick nimmt, auch wenn sie diese zu dekonstruieren gewillt ist, läuft allerdings Gefahr, klassenblinde Analysemuster zu (re-)produzieren. Hier verspricht das Theorieangebot von Lamont eine intersektionale Verschränkung von class und race (Mijic/Parzer 2017).

Ausgehend von diesen Überlegungen soll das Forschungsfeld der sogenannten ‚ethnischen Ökonomien‘ die theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriffsfeld der ‚Ethnizität‘ veranschaulichen.

Anwen­dungs­feld: ‚Eth­ni­sche Ökono­mien‘

Theoretische Überlegungen zu migrantisch geführten Betrieben basieren häufig auf Vorstellungen von einem Neben- oder Miteinander von Kulturen als voneinander abgrenzbare, in sich homogene Gebilde (vgl. u.a. Pütz 2004: 10). Dadurch wird ‚Ethnizität‘ oftmals als Ergebnis von Analysen herausgestellt, obwohl das Konzept als eine wenig reflektierte Vorannahme in Forschungsarbeiten verwendet wird (Timm 2000: 374f.). Dies führt zur Kulturalisierung von Ökonomien und kann im schlechtesten Fall Rassismus befördern. ‚Ethnisch‘ sind demnach ‚Koreaner:innen in Los Angeles‘ oder ‚Türk:innen in Berlin‘, die kleine Geschäfte betreiben, nicht aber hochqualifizierte internationale Unternehmer:innen (vgl. Boissevain et al. 1990; Schmidt 2000: 340).

In der Absicht, Explanans und Explanandum analytisch zu trennen, ist es beim Zugriff von Forschung auf ‚ethnische Ökonomien‘ über eine ‚ethnische Gruppe‘ umso wichtiger, ihre oftmals durch die Forschung konstruierte Gruppenzugehörigkeit nicht als Erklärung für ihre ökonomischen Strategien heranzuziehen. So ist zum Beispiel die starke Verbreitung eines ‚ethnischen‘ Einzelhandels in bestimmten Branchen nicht durch eine ‚kulturelle Neigung‘ zu erklären, sondern durch strukturelle Ausschlüsse aufgrund von branchen- oder berufsspezifischen Regulierungen, die diskriminierende Folgen haben können. Dies betrifft zum Beispiel Kosmetikstudios, insofern Kosmetiker:innen ohne anerkannten Berufsabschluss auf das Betreiben von Nagelstudios ausweichen müssen. Analog dazu dürfen in Deutschland praktizierende Schneider:innen nur mit einer in Deutschland anerkannten beruflichen Qualifikation Schneidereien führen. Andernfalls dürfen sie sich ‚nur‘ als Änderungsschneidereien bezeichnen, was die hohe Zahl an Änderungsschneidereien erklärt, die von Schneider:innen mit Migrationsgeschichte betrieben werden.

An der Forschung zu ‚ethnischen Ökonomien‘ lassen sich auch begriffliche Unterschiede im anglofonen und deutschsprachigen Raum nachzeichnen. So wurden die aus der US-amerikanischen Soziologie der 1970er Jahre stammenden Begriffe Ethnic Entrepreneurship bzw. Ethnic Economy zunächst in den 1980er und 1990er Jahren vom neu entstandenen deutschsprachigen Forschungsfeld übernommen, um die aufgekommene berufliche Selbstständigkeit von Arbeitsmigrant:innen im damaligen Westdeutschland zu erklären. Erst um die Jahrtausendwende setzten sich neue Begrifflichkeiten wie die ‚migrantische Ökonomie‘ durch, die eine konzeptionelle Auseinandersetzung mit der Ethnisierung von Ökonomien anstießen. Problematisiert wurde vor allem die Vorstellung einer migrantischen Kultur als Gegenwelt zur Ökonomie. ‚Ethnische Ökonomie‘ wurde dabei als vorkapitalistische, prämoderne Gegenwelt zur kapitalistischen Produktionsweise imaginiert (Timm 2000: 364).

In dieser Perspektive werden migrantisch geführte Läden dann oftmals primär als soziale Treffpunkte gelesen, die der Vernetzung der ‚ethnischen Community‘ dienen. Dadurch kann ihre ökonomische Funktionsweise aus dem Blick geraten. Der Annahme, dass Tradition und ländliche Herkunft das wirtschaftliche Handeln prägen, entgegnet Schmidt, dass ‚Ethnizität‘ keine „im Handgepäck der Einwanderer mitgebrachte Ressource [ist], sondern ihre Bedeutung oftmals erst durch die Marginalisierung im Einwanderungsland erhielt“ (ebd.: 358). In der Forschung zu ‚ethnischen Ökonomien‘ werden also Probleme benannt, die treffender in einem gesamtgesellschaftlichen bzw. gesamtwirtschaftlichen Kontext diskutiert werden könnten – zum Beispiel vor dem Hintergrund von strukturellem Rassismus und Diskriminierung.

Insbesondere in der Gastronomie lenkt die Perspektive ‚ethnischer Ökonomien‘ den Blick auf die Selbstbezeichnung als Gruppe im Sinne einer strategischen Ethnisierung. Hier wird das Andere, das Fremde, das ‚Ethnische‘ als authentisch imaginiert. Es wird zum ‚gewissen Etwas‘, mit dem sich Gastronom:innen selbst vermarkten (hooks 1992; Schmiz 2021). Dieser „strategische Essentialismus“ (Spivak 1987) kann durch den Begriff der ethnisierten Gastronomie bzw. Ökonomie um eine reflexive Perspektive auf (strategische) ‚ethnische‘ Grenzziehungsprozesse erweitert werden. Die Differenzierung in Selbst- und Fremdzuschreibung sowie deren Wechselwirkung dienen dabei als hilfreiche Analysefolie.

Ausblick

Der Beitrag hat zwei wesentliche Unterscheidungen im Begriffsfeld ‚Ethnizität‘, ‚Ethnie‘ und ‚ethnisch‘ vorgestellt: die deutschsprachige versus englischsprachige und die alltagssprachlich-politische versus wissenschaftliche Verwendung. Dass letztere Differenzierung weiterhin wirkmächtig ist, bringt der eingangs zitierte Vers des Moldy Peaches-Songs auf den Punkt: „I’m running out of ethnic friends“. Der alltagssprachliche Gebrauch des Attributes ethnic für die Betrachtung der eigenen Freund:innen führt die problematisierten gesellschaftlichen Grenzziehungen ad absurdum.

Denn wie gezeigt wurde, findet das Begriffsfeld alltagssprachlich im Deutschen kaum Verwendung. Gerade in der Sprecher:innenposition von Rassismus betroffenen Gruppen haben sich eher englischsprachige Begriffe durchgesetzt. So haben die politische Kategorie race oder die Selbstbezeichnungen People of Colour/PoC oder auch Black People of Colour/BPoC sehr viel wirkmächtigeren Eingang in gesellschaftliche Diskurse erhalten als das problematische Konzept der ‚Ethnizität‘.

Dennoch bleibt die Frage bestehen: Welches Potenzial und welche Problematiken sind im Begriff ‚Ethnizität‘ enthalten und welche alternativen Begriffe wären heute denkbar oder wünschenswert? Migrationsforschung bleibt in dem Dilemma verhaftet, dass sich über Differenzierungsprozesse auch in kritischer Absicht nicht forschen lässt, ohne selbst zu sortieren und zu ordnen und damit Grenzen zu ziehen. Das bedeutet, sie trägt zur Erhaltung des Begriffes und der damit zusammenhängenden Markierung von Differenz bei, die in rassistischer Diskriminierung münden kann. Damit verweist der Beitrag auf eine nicht aufzulösende Paradoxie der Forschung: Es kann keine universalen Begriffe und Konzepte geben. Für die Migrationsforschung, die sich mit der Kategorisierung und Hierarchisierung von mobilen Menschen beschäftigt, stellt dies ein fundamentales Problem dar. In diesem Sinne soll die Befassung mit dem Begriffsfeld die Bedingtheit und Ausschließlichkeit der Sprache sichtbar machen, mit der Migration im Englischen und im Deutschen sowie im Alltag und in der Wissenschaft beschrieben wird.

Neben den vielen dargelegten Problematiken hat ‚Ethnizität‘ als analytisches Konzept das Potenzial, Grenzziehungsprozesse sichtbar zu machen, die in rassistisch motivierten Ausschlüssen oder Diskriminierungen münden können. Eine Differenzierung von ‚Ethnizität‘ als Prozess der Selbstidentifikation und gleichermaßen der Fremdzuschreibung kann mitunter machtvolle Fremdzuschreibungen ins Zentrum der Analyse rücken. Hier könnte eine reflexive Migrationsforschung einen Beitrag liefern – indem sie ‚Ethnizität‘ zum Beispiel konsequent als Selbst- bzw. Fremdbezeichnung versteht und die damit verbundene Konstruktionsleistung begrifflich als Ethnisierung hervorhebt.

Lite­ra­tur

Zum Weiterlesen

Barth, Fredrik (Hg.) (1969a): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference, London: Waveland Press.

Dahinden, Janine (2014): „‚Kultur‘ als Form symbolischer Gewalt. Grenzziehungsprozesse im Kontext von Migration am Beispiel der Schweiz“, in: Boris Nieswand/Heike Drotbohm (Hg.), Kultur, Gesellschaft, Migration. Studien zur Migrations- und Integrationspolitik, Wiesbaden: Springer, S. 97-121.

Glazer, Nathan/Moynihan, Daniel P. (Hg.) (1975): Ethnicity. Theory and Experience, Cambridge: Harvard University Press.

Hall, Stuart (2018): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument Verlag.

Jenkins, Richard (1997): Rethinking Ethnicity. Arguments and Explorations, London: Sage Publications.

lamont, Michelle/Molnár, Virág (2002): „The Study of Boundaries in the Social Sciences“, in: Annual Review of Sociology 28 (1), S. 167-195.

Mijic, Ana/Parzer, Michael (2017): „‚Symbolic Boundaries‘ als Konzept zur Analyse ethnischer und klassenspezifischer Ungleichheit in der Gegenwartsgesellschaft“, in: Stephan Lessenich (Hg.), Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016.

Müller, Marion/Zifonun, Darius (2010) (Hg.): Ethnowissen. Soziologische Beiträge zu ethnischer Differenzierung und Migration, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Müller, Marion/Zifonun, Darius (2010): „Wissenssoziologische Perspektiven auf ethnische Differenzierung und Migration: Eine Einführung“, in: dies. (Hg.), Ethnowissen. Soziologische Beiträge zu ethnischer Differenzierung und Migration, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 9-33.

Spivak, Gayatri Chakravorty (1987): In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, New York [u.a.]: Methuen.

Weber, Max (1980/1922): Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Auflage, Tübingen: Mohr Siebeck.

Wimmer, Andreas (2008): „The Making and Unmaking of Ethnic Boundaries. A Multi-Level Process Theory“, in: American Journal of Sociology 113 (4), S. 970-1022.

Winter, Rainer (2006): „Stuart Hall. Die Erfindung der Cultural Studies“, in: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Bielefeld: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 381-393.

Zitierte Literatur

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2022): Häufig gestellte Fragen zum Thema Rassismus / ethnische Herkunft, https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/ethnische-herkunft-rassismus/ethnische-herkunft-rassismus-node.html vom 29.09.2022.

Baumann, Gerd (1996): Contesting Culture. Discourses of Identity in Multi-Ethnic London, Cambridge: Cambridge University Press.

Barth, Fredrik (1969b): „Introduction“, in: Fredrik Barth, Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference, London: Waveland Press, S. 9-38.

Bös, Mathias (2010): „‚Rasse‘ und ‚Ethnizität‘. W.E.B. Du Bois und die wissenschaftliche Konstruktion sozialer Großgruppen in der Geschichte der US-amerikanischen Soziologie“, in: Marion Müller/Darius Zifonun (Hg.), Ethnowissen. Soziologische Beiträge zu ethnischer Differenzierung und Migration, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 37-59.

Boissevain, Jeremy et al. (1990): „Ethnic Entrepreneurs and Ethnic Strategies“, in: Roger Waldinger/Howard Aldrich/Robin Ward (Hg.), Ethnic Entrepreneurs. Immigrant Business in Industrial Societies, Newbury Park u.a.: Sage Publications, S. 131-156.

Brockhaus Online Enzyklopädie (2022): Ethnizität, https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/ethnizit%C3%A4t vom 29.09.2022.

Deutscher Bundestag (o.J.): Plenarprotokolle, https://dip.bundestag.de/ vom 30.12.2021.

Feischmidt, Margit (2016): „Ethnizität“, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p44171 vom 14.09.2022.

Glazer, Nathan/Moynihan, Daniel P. (1963): Beyond the Melting Pot – the Negroes, Puerto Ricans, Jews, Italians, and Irish of New York City, Cambridge: The MIT Press.

Hannerz, Ulf (1993): „When Culture is Everywhere. Reflections on a Favorite Concept“, in: Ethnos 58 (1/2), S. 95-111.

Hooks, Bell (1992): „Eating the Other“, in: Bell Hooks (Hg.), Black Looks. Race and Representation, Boston: South End Press, S. 21-39.

Jaeger, Friedrich (1992): „Der Kulturbegriff im Werk Max Webers und seine Bedeutung für eine moderne Kulturgeschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft 18 (3), S. 371-393.

Nally, David (2009): „Historical Geographies of Ethnicity and Resistance“, in: International Encyclopedia of Human Geography 4 (2), S. 315-320.

Pütz, Robert (2004): Transkulturalität als Praxis. Unternehmer türkischer Herkunft in Berlin, Bielefeld: transcript.

Schmidt, Dorothea (2000): „Unternehmertum und Ethnizität – ein seltsames Paar“, in: Prokla, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 3 (120), S. 335-362.

Schmiz, Antonie (2021): „Die Produktion von Authentizität in der ethnisierten Gastronomie“, in: Berit Callsen (Hg.), Authentizität transversal. Multiperspektivische Betrachtungen von ‚Echtheit‘, Berlin: Frank & Timme, S. 135-150.

Timm, Elisabeth (2000): „Kritik der ‚ethnischen Ökonomie‘“, in: Prokla, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 3 (120), S. 363-376.

index