Einleitung
Das Sprechen und Schreiben über Migration zeichnet sich durch eine Vielzahl von umkämpften Begriffen aus, die Menschen in Bewegung auf unterschiedliche Weise bezeichnen und kategorisieren: ‚Migration‘ oder ‚Mobilität‘, ‚Einwanderung‘ oder ‚Zuwanderung‘, ‚Ausländer‘ oder ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘, ‚Geflüchtete‘ oder ‚Flüchtlinge‘.1 Wen oder was etwa die Kollektivbezeichnung ‚Flüchtling‘ genau umschreibt, ist dabei meist weniger relevant (und nachvollziehbar) als seine Verwendung. Es ist ein zutiefst politisierter Begriff, der die sehr unterschiedlichen Fluchtgründe und -erfahrungen von Menschen über einen Kamm schert und ‚Flüchtlinge‘ in den aufgeheizten Debatten um Flucht und Asyl zum Gegenstand von Deutungskonflikten macht (Scherr/Scherschel 2019: 64-78). Die wissenschaftliche Diskussion über den Begriff ‚Flüchtling‘ ist nicht weniger vielschichtig und kontrovers. Exemplarisch steht dafür das im Jahr 2023 veröffentlichte Handbuch zur Flucht- und Flüchtlingsforschung (Scharrer et al. 2023). Über die enorme thematische Komplexität von Theorien, Methoden, disziplinären und regionalen Perspektiven hinaus demonstriert es anschaulich, dass die Auseinandersetzung mit Begriffen und Definitionen konstitutiv für die Entstehung von Wissen über ‚Flüchtlinge‘ ist.
Begriffe sind von großer Relevanz, weil sie den gesellschaftlichen Prozess der Meinungsbildung und die Forschung selbst beeinflussen. Sie stehen im Zentrum von Aushandlungsprozessen, in denen die gesellschaftliche Bedeutung von ‚Flüchtlingen‘ immer wieder neu bestimmt wird – mit der Folge, dass die Kollektivbezeichnung permanent umgedeutet, neu angeeignet und mit kontroversen oder widersprüchlichen Konnotationen aufgeladen wird. Vor diesem Hintergrund widmen wir uns der ambivalenten Karriere des Begriffs ‚Flüchtling‘. Es geht darum, seine je spezifische Verwendung in unterschiedlichen Bereichen zu kontextualisieren und seine Funktionen in verschiedenen historischen Konstellationen zu skizzieren. Zudem werden wir darlegen, wie eng seine jeweilige Verwendung mit Vorstellungen von Zugehörigkeit und Souveränität verknüpft war. Zugleich können wir über die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bedeutungsdimensionen des Begriffs und der Frage, wann welche Begriffsverwendung die Auseinandersetzung mit Flucht prägte, nachvollziehen, wie sich die Gesellschaft ‚Flüchtlingen‘ gegenüber jeweils positionierte.
Zwei Bemerkungen zu unserer Begriffsverwendung: Einige der folgenden Ausführungen beruhen auf einer rechtshistorischen Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚refugee‘. Als Rechtsbegriff, der im Zentrum des internationalen Flüchtlingsrechts steht, wurde der Begriff in juristischen und rechtspolitischen Debatten oft unmittelbar ins Deutsche übertragen, weswegen wir auf diese Diskussionen und ihre Relevanz für die Entwicklung des deutschen Flüchtlingsrechts verweisen. Wir setzen die Begriffe ‚Flüchtling‘ und ‚refugee‘ jedoch nicht gleich: Auch wenn es manche Überschneidungen gibt, sind die Debatten um die Kollektivbezeichnung ‚Flüchtling‘ in deutschsprachigen Gesellschaften andere als jene um ‚refugees‘. Eine bloße Übersetzung könnte die je spezifische gesellschaftliche Bedeutung nicht wiedergeben. Grundsätzlich steht eine begriffsgeschichtliche Analyse von ‚Flüchtling‘ vor der Herausforderung, selbstreflexiv mit der eigenen Sprache umzugehen.
Der Begriff ist nicht erst 2015 in die Kritik geraten, als die Gesellschaft für deutsche Sprache e.V. (2015) ihn trotz der ambivalenten Konnotationen, die mit ihm verbunden sind, zum Wort des Jahres erhob. Schon zuvor kritisierten Sprachwissenschaftler:innen den Begriff insbesondere wegen der oftmals abwertenden Konnotation des Suffix ‚-ling‘ (Stefanowitsch 2021). In den Gesellschaftswissenschaften wurde darauf verwiesen, dass es sich um einen rechtlichen und politischen Begriff handele, der die staatliche Perspektive auf Flucht reproduziere und sie in die Forschung trage (Hess/Tsianos 2010; verteidigend Kleist 2018).
Der Soziologe Albert Scherr spricht von einer „unzureichenden sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung“ (Scherr 2015: 360) mit dem Begriff, was er auf ein dem Feld inhärentes Dilemma zurückführt: Den Begriff ‚Flüchtling‘ nicht präzise zu bestimmen, bedeute, die semantische Deutungshoheit Politik und Recht zu überlassen und die Entwicklung einer eigenständigen Flüchtlingsforschung zurückzustellen, deren Kern gerade in der Analyse der Begriffe bestünde, mit denen gesellschaftliche Akteur:innen soziale Wirklichkeit herstellen. Gleichzeitig, so Scherr, sei jede wissenschaftliche Begriffsbestimmung politisch folgenreich, weil sie „eine Aussage darüber [ist], wer als schutzbedürftig gelten soll“ (ebd.) – mit der Konsequenz, dass bestimmten Personen eben dieser Schutzanspruch abgesprochen werde. Da wie wir im Folgenden argumentieren, dass die so bezeichneten Personen über den Gebrauch des Begriffs in Wissenschaft, Recht, Politik und Medien verortet werden, verwenden wir den Begriff ‚Flüchtling‘ sowie andere, aus dem amtlichen oder medialen Sprachgebrauch stammende Begriffe wie Geflüchtete‘ durchgehend als Quellenbegriff, den Zeitgenoss:innen nutzten, um Fluchtverhältnisse zu beschreiben und einzuordnen. Für die Analyse verwenden wir dagegen alternative Begriffe wie ‚Geflohene‘ oder ‚Schutzsuchende‘.