Einleitung
Ein Inventar der Migrationsbegriffe wäre ohne einen Eintrag zum Begriff der Grenze unvollständig.1 Denn, zugespitzt formuliert, bringt erst die Grenze die Migration hervor. Ohne Grenze, so scheint es zumindest, keine Migration. Dies gilt nicht nur in definitorischer Hinsicht, da Migration im Allgemeinen als eine Form menschlicher Mobilität verstanden wird, die Grenzen überschreitet und dabei nicht bloß vorübergehend ist. Jenseits dieses formalen Verständnisses korrespondiert unsere Zuspitzung jedoch auch mit einer gesellschaftlich dominanten Wahrnehmung. Insbesondere in Europa, aber zunehmend auch in anderen Regionen der Welt, wird Migration vermehrt im Kontext einer Grenze problematisiert.
Grenzen werden als vermeintlich probate Mittel dargestellt, um Migration entweder zu steuern oder ganz zu unterbinden. Zudem wird die Transgressivität der Migration – also der Umstand, dass Praktiken der Migration notwendigerweise immer wieder im Widerspruch zu gültigen Normen stehen – oftmals an Grenzen wahrnehmbar. Dort wird Migration entweder als menschliche Tragödie oder als Krise und Spektakel sichtbar. Die Grenze scheint also zentral für die Hervorbringung der Migration zu sein. Dabei ist die Grenze nicht ursächlich für Akte menschlicher Mobilität, sondern für die Kategorisierung einer bestimmten, dem Nationalstaat äußerlichen Form der menschlichen Mobilität als Migration.
Auch wenn der Begriff ‚Grenze‘ Eindeutigkeit suggeriert, so ist er doch gleichzeitig ambivalent, wandelbar und wird ganz unterschiedlich eingesetzt. Tatsächlich lässt sich die Bedeutung des Begriffs schwer bestimmen, wird er doch genutzt, um so gut wie jede Form der Differenz zu markieren und fast jedes Ergebnis einer Kategorisierung zu bezeichnen. Der „Triumphzug“ des Begriffs ist laut Stefan Böckler (2003) auch dessen nahezu beliebiger Verwendung geschuldet. In seinem Beitrag zum Archiv der Begriffsgeschichte fragt Böckler, ob ‚Grenze‘ gar ein Allerweltswort sei, also ein Wort, „das tendenziell ‚von aller Welt‘ für die ‚Beschreibung aller Welt‘ verwendet“ werden könne (ebd.: 176). Zugleich ist der Begriff als „Grundbegriff der Moderne“ (ebd.: 167), wie es Böckler anhand seiner wort- wie sozialgeschichtlichen Untersuchung nahelegt, eng verbunden mit der Herausbildung moderner Nationalstaaten und ihrer ‚Identitäten‘, der Hervorbringung des Individuums sowie der fortschreitenden Arbeitsteilung in der Gesellschaft.
Was also ist eine Grenze? Dieser Beitrag ist kein Versuch, diese Frage auf grundsätzliche Art zu klären. Solch ein Unterfangen wäre dem französischen Philosophen Étienne Balibar zufolge auch schlicht absurd. In seinem bekannten Aufsatz „What Is a Border?“ verweist er auf die drohende Zirkularität eines Versuchs der Begriffsdefinition:
„The idea of a simple definition of what constitutes a border is, by definition, absurd: to mark out a border is, precisely, to define a territory, to delimit it, and so to register the identity of that territory, or confer one upon it. Conversely, however, to define or identify in general is nothing other than to trace a border, to assign boundaries or borders […]. The theorist who attempts to define what a border is is in danger of going round in circles, as the very representation of the border is the precondition for any definition.“ (Balibar 2002: 76)
Statt uns im Kreis zu drehen, wollen wir uns dem Begriff auf verschiedene Weisen und auf verschiedenen Ebenen nähern. Zunächst beginnen wir mit einer kursorischen Begriffseinordnung, wobei schnell deutlich wird, dass eine rein begriffsanalytische Herleitung nicht nur ein schwieriges Unterfangen ist, sondern auch der Erkenntnisgewinn überschaubar bleibt. Wie Christoph Kleinschmidt bemerkt, erschließt sich die Semantik der Grenze viel eher „anhand ihrer jeweiligen Verfahren und Anwendungsweisen“ (Kleinschmidt 2014). Daher betrachten wir das „doing borders“ (Hess/Kasparek/Schwertl 2018) zunächst in Bezug auf den Imperialismus, Kolonialismus und Postkolonialismus, anschließend mit Blick auf den europäischen Integrationsprozess und zuletzt hinsichtlich der transnationalen Regulierung von Migration.