23 Inte­gra­tion

ein beitrag von

  • Aladin El-Mafaalani

Integration ist ein zentraler Begriff in öffentlichen und politischen Migrationsdiskursen. Der Beitrag differenziert verschiedene Ausrichtungen und Anwendungsfelder des Integrationsbegriffs, rekonstruiert seinen Bedeutungszuwachs im öffentlichen Diskurs und skizziert etablierte wissenschaftliche Integrationsbegriffe und die Kritik an ihnen.

Einlei­tung

Der Integrationsbegriff ist einer der zentralen Begriffe im öffentlichen Diskurs zu Migration. Häufig werden ‚Migration‘ und ‚Integration‘ in einem Atemzug genannt. Integration ist ein weitgehend institutionalisierter Begriff, auch über die Integrationspolitik und Integrationsgesetze hinaus. Auf verschiedenen Ebenen gibt es Integrationsbeauftragte, Integrationskonzepte, Integrationsstrategien, Integrationsmonitoring, Integrationspreise usw. Dabei ist bemerkenswert, dass sich der Begriff Integration im öffentlichen und politischen Diskurs auf Migration bezieht, während es bei Inklusion um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung und bei Gleichstellung um die von Frauen und LSBTIQ+ geht.

Im öffentlichen Migrationsdiskurs haben sich dabei verschiedene negative Figuren etabliert, etwa ‚gescheiterte Integration‘, ‚Integrationsunwilligkeit‘ oder ‚Integrationsunfähigkeit‘. Integration wird daher von vielen Seiten kritisiert und infrage gestellt. Häufig kommt der Begriff zum Einsatz, um Desintegrationstendenzen zu markieren oder aber um moralische Appelle zur Anpassung zu platzieren. Ähnlich wie etwa der Begriff ‚Migrationshintergrund‘ markiert er einen Fortschritt im Sprechen über Migration – einen Fortschritt, der von manchen mittlerweile als überholt verstanden wird.

Tatsächlich folgte auf ein weitgehendes Desinteresse in Öffentlichkeit und Politik für Belange von Zugewanderten eine Phase der gesteigerten Aufmerksamkeit, die sich zunächst in einseitigen und unterkomplexen Integrationsverständnissen ausdrückte. Erst in jüngster Vergangenheit haben sich reflexive begriffliche Neubestimmungen entwickelt, die derart erweitert sind, dass sie das Potenzial zu sowohl einer adäquaten Wissensproduktion als auch einer politischen Orientierung in superdiversen offenen Gesellschaften haben.

Im Folgenden werden zunächst verschiedene mögliche Ausrichtungen des Integrationsbegriffs vorgestellt, bevor die Verwendung im Migrationsdiskurs nachgezeichnet wird. Daraufhin wird die Kritik an etablierten wissenschaftlichen Integrationsbegriffen skizziert. Auf diese Weise soll der Beitrag in die Komplexität, Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit des Begriffs einführen.

Mögli­che Ausrich­tun­gen des Inte­gra­ti­ons­be­griffs

Der Begriff Integration wird häufig verwendet, um zum Ausdruck zu bringen, dass etwas ‚eingebaut‘ oder ‚verknüpft‘ wird und damit zwei Dinge aneinander ‚angepasst‘ oder Teil eines Ganzen werden, wobei entweder dieses Ganze neu entsteht (vorher also nicht bestand) oder ein zuvor bestehendes Ganzes verändert wird. Beispielsweise lässt sich sagen, dass ein Absatz in einen Text integriert wird, sodass er im Ergebnis ein integraler Bestandteil dieses Textes ist.

Diese alltagsbezogene Begriffsbestimmung entspricht der Wortherkunft: Der lateinische Begriff integratio bedeutet Wiederherstellung, Erneuerung, Ergänzung. Integration bezeichnet also einen Prozess, bei dem – auf verschiedenen Ebenen – durch Veränderung und Erneuerung Stabilität und Einheit immer wieder neu hergestellt werden. Der Begriff hat folglich in zweierlei Hinsicht eine dynamische Komponente: Er markiert eine Prozesshaftigkeit (und gerade kein ‚Fertigwerden‘) und er verweist auf eine Interdependenz (und gerade nicht auf eine Einseitigkeit bzw. ‚Einbahnstraße‘).

Der Begriff Integration wurde und wird in der Forschung und teilweise auch in politischen Debatten auf verschiedenen Ebenen auf unterschiedliche Weise verwendet (El-Mafaalani 2020). Daher ist es notwendig, zunächst diese Ebenen zu unterscheiden. Hier sollen die Mikroebene (Mensch), die Makroebene (Gesellschaft) und die Mesoebene (Organisation) skizzenhaft differenziert werden:

Integration kann sich im Kleinen auf einzelne Menschen und Menschengruppen beziehen und zielt dann in der Regel auf Veränderungen und Anpassungen, etwa indem Menschen ‚fit‘ (im doppelten Sinne, also passend und befähigt) werden. Integration bedeutet hier also, dass Menschen die Befähigung und Fähigkeit erlangen (sollen), an der Gesellschaft teilzuhaben. Dies stellt hohe Anforderungen bezüglich Veränderungsbereitschaft und Anpassung an die Einzelnen (z.B. eine neue Sprache erlernen, berufliche Qualifizierungen erwerben). Integration kann sich auf dieser Mikroebene auf verschiedene Gruppen oder Individuen beziehen, die von der Gesellschaft als benachteiligt betrachtet werden und wurden, wie z.B. Frauen, Menschen mit Behinderung, Ostdeutsche, migrierte und migrantisierte Menschen.

Veränderungen und Anpassungen im Großen beziehen sich auf große gesellschaftliche Subsysteme und damit auch auf die Gesellschaft als Ganze. In dieser Makro-Perspektive adressiert der Integrationsbegriff unter anderem die Befähigung der Gesellschaft dazu, die Teilhabe von mehr und immer unterschiedlicheren Menschen bzw. die Teilhabe in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen zu ermöglichen und zu strukturieren. Und es muss gesellschaftliche Strukturen geben, um die Teilhabe von Diversität zu ordnen. Damit geht auch Integration im Großen mit Veränderungen und Anpassungen einher. Auf dieser Makroebene kann der Begriff in ganz verschiedenen gesellschaftlichen Feldern Anwendung finden, etwa bei der Integration Ostdeutschlands (Wiedervereinigung), bei der europäischen Integration (Europäische Union), aber auch im Hinblick auf die Weltgemeinschaft (UNO). In all diesen Fällen erkennt man das gleiche Phänomen: Es kommt zu Veränderungen und damit auch zu Konflikten. Die Integration von Teilen in ein Ganzes verändert dieses Ganze. Folglich hat die Integration von einigen (Menschen) Auswirkungen auf alle (Menschen).

Zwischen Mikro- und Makroebene liegt die Mesoebene, auf der Organisationen angesiedelt sind, etwa eine Schule oder ein Unternehmen. Auch hier wird der Begriff Integration schon lange jenseits eines Migrationskontextes verwendet, etwa wenn es um die Integration von neuen Mitarbeiter:innen oder die Integration zweier Organisationen aufgrund einer Unternehmensfusion geht. Auf der Mesoebene wird Integration im Kontext von Migration zunehmend durch andere Begriffe ersetzt, etwa ‚interkulturelle Öffnung‘ oder ‚Diversity Management‘. Spezifische Fragen stellen sich hier insbesondere für Schulen, etwa die Frage, ob eine selektive Beschulung neu zugewanderter Kinder in eigenen Klassen (z.B. in sogenannten ‚Willkommensklassen‘) für den Erwerb der deutschen Sprache bzw. für die Integration in der Schule besser ist als eine direkte Aufnahme in einer Regelklasse. Auch hier impliziert Integration eine Anpassung bzw. Veränderungen von organisationalen Strukturen und Prozessen.

Diese drei Ebenen stehen in einem vielschichtigen Verhältnis zueinander: Die Schule ist eine Organisation (Mesosystem), die innerhalb des Bildungssystems (Makroebene) die Teilhabe von Kindern verschiedener Herkunftsgruppen ermöglichen soll, wodurch neu zugewanderte Schüler:innen vor spezifische Anforderungen gestellt werden (Mikroebene). Damit in Schulen etwa sowohl Deutsch als Zweitsprache als auch die Herkunftssprache gelehrt und gelernt wird, müssen auf allen drei Ebenen gewisse Anpassungen vollzogen werden.

Der Integrationsbegriff ist also grundsätzlich offen und breit einsetzbar, wurde in vielfältigen Kontexten verwendet und auf verschiedene Ebenen übertragen. Mittlerweile wird der Begriff im öffentlichen und politischen Diskurs allerdings überwiegend auf Migration bzw. Migrant:innen bezogen.

Inte­gra­tion(spoli­tik) im öffent­li­chen und poli­ti­schen Migra­ti­ons­dis­kurs

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Lebensverhältnisse von Migrant:innen und ihren Nachkomm:innen in Deutschland deutlich verbessert, etwa im Hinblick auf Wohnverhältnisse, Bildungsbeteiligung, Arbeitsmarktchancen, Sprachkenntnisse und Möglichkeiten politischer Partizipation. Das heißt nicht, dass Gleichstellung schon realisiert wäre, sondern lediglich, dass die meisten Daten eine positive Entwicklung anzeigen. Dass sich im öffentlichen Diskurs diese empirischen Verbesserungen kaum spiegeln, hängt auch mit einer in Deutschland sehr spezifischen migrationspolitischen Geschichte zusammen.

Das Wort ,Gastarbeiter‘ selbst verdeutlicht schon die Diffusität der deutschen Integrationspolitik der 1950er bis 1980er Jahre. Man wies den arbeitenden ‚Gästen‘ einen Arbeitsplatz und eine Unterkunft zu. Abgesehen davon wurde kaum etwas getan, um die Integration und damit das Einleben und die Teilhabe in anderen gesellschaftlichen Bereichen – auch jenseits des Arbeitsplatzes – zu fördern. Es gab kein systematisches Angebot an Sprachkursen, Fortbildungen, Beratung und Orientierung. Die Kinder der sogenannten Gastarbeiter:innen wurden lange Zeit von den deutschen Kindern getrennt beschult. Die Migrant:innen sollten nicht dauerhaft bleiben und entsprechend war von Integration nicht die Rede (vgl. Oltmer/Kreienbrink/Sanz Diaz 2012).

Erst in den 1990ern gewann das Thema Integrationspolitik und damit auch der Integrationsbegriff zunehmend an Bedeutung. Dies geschah vor dem Hintergrund der Vielzahl rechtsextremer Anschläge, einer zunehmenden Fluchtmigration (insbesondere aus dem ehemaligen Jugoslawien) und der Zuwanderung von sogenannten Spätaussiedler:innen aus dem östlichen Europa. Hinzu kam, dass im Jahr 1998 die Erziehungswissenschaftlerin Ursula Boos-Nünning erstmals an prominenter Stelle, nämlich im Zehnten Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, den Begriff ‚Migrationshintergrund‘ verwendete. Durch die Berücksichtigung sowohl von ausländischen als auch von eingebürgerten Kindern und Jugendlichen erhöhte sich der Anteil von Menschen an der Gesamtbevölkerung, die als ‚nicht deutsch‘ galten, wesentlich. Nicht zuletzt dadurch wurde in der Öffentlichkeit zunehmend diskutiert, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei.

Die 2000er Jahre waren entsprechend geprägt durch eine Reihe von neuen integrationspolitischen Maßnahmen, insbesondere eine grundlegende Liberalisierung des Einbürgerungsrechts (zum 01.01.2000), durch die das gewachsene Bewusstsein als Einwanderungsland dokumentiert wurde. Außerdem haben im Jahr 2001 zwei Ereignisse den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs nachhaltig geprägt: die international vergleichende PISA-Studie sowie die Terroranschläge in den USA am 11. September. Schwächen in der Integrationspolitik wurden nun intensiv diskutiert. Durch PISA wurde die Bedeutung von Bildung im Allgemeinen und Schule im Speziellen für Integrationsprozesse herausgestellt. Im Anschluss an die Terroranschläge vom 11. September wurde Integration zunehmend auch als sicherheitspolitische Herausforderung begriffen und zunächst sehr stark auf den Islam und Muslim:innen verengt.

Spätestens durch die rechtliche Festschreibung von Integration als Staatsaufgabe im Jahr 2005 sowie den ersten Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt im Jahr 2006 ist Integrationspolitik ein etabliertes und stetig wachsendes Politikfeld. Zunächst wurden Migrations- und Integrationsbeauftragte auf kommunaler Ebene eingesetzt, später dann Integrationsministerien auf Landesebene. Durch die Einführung von verpflichtenden Sprach- und Integrationskursen, eine Ausweitung von Beratungsangeboten sowie durch die Schaffung von Möglichkeiten der politischen Partizipation auch ohne Wahlrecht (etwa durch Integrationsräte bzw. Ausländerbeiräte) entstand seit den 2000er Jahren eine integrationspolitische Infrastruktur.

Wie vereinzelt bereits zuvor, erschien der Begriff Integration im öffentlichen Diskurs in den 2000er und 2010ern häufig in einem problemorientierten Zusammenhang, wenn z.B. vermeintliche ‚Parallelgesellschaften‘ problematisiert wurden, eine ‚deutsche Leitkultur‘ gefordert wurde oder gefragt wurde: ‚Gehört der Islam zu Deutschland?‘ Dadurch bekam ‚Integration‘ zunehmend den Charakter eines Disziplinierungsbegriffs, der mit einem Fremdmachen (Othering) einherging und -geht. Dies liegt auch daran, dass im politischen und öffentlichen Diskurs im Gegensatz zur oben vorgestellten Vielschichtigkeit des Begriffs ein einseitiges Integrationsverständnis dominant war und zum Teil noch ist: Integration wird häufig verstanden als Anpassung, gelungene Integration als Zustand der Konfliktfreiheit und Homogenisierung.

Demgegenüber lässt sich aber genau das Gegenteil konstatieren. Denn eine Verbesserung der Teilhabechancen im Bildungswesen, auf dem Arbeitsmarkt und bei der politischen Partizipation führt nicht zu Homogenisierung von Lebensweisen und zu gesellschaftlicher Harmonie. Vielmehr ist davon auszugehen, dass gerade durch gelungene Integration viel häufiger Differenz- und Fremdheitserfahrungen gemacht werden, unter anderem dadurch, dass sich Minderheiten insgesamt selbstbewusst zu Wort melden, ihre Interessen vertreten und eigene Ansprüche erheben. Verteilungs- und Interessenkonflikte können entsprechend zunehmen.

Inte­gra­ti­ons­be­griff(e) in der Migra­ti­ons­for­schung

Auch in der deutschen Migrationsforschung dominierten zunächst Integrations- und Assimilationskonzepte, die von einer defizitorientierten Perspektive auf Minderheiten und Neuzugewanderte zeugten, mit denen in der Regel eine Fixierung auf ‚Kultur‘ einherging. Allerdings ist mittlerweile vielfach darauf hingewiesen worden, dass solche statisch-homogenisierenden, kulturalisierenden und dabei defizitorientierten Zuschreibungen ein Othering, also eine essentialisierende Kategorisierung, begünstigen. In Deutschland wurde neben dem Assimilationsbegriff etwa auch der Begriff ‚Eingliederung‘ in dieser Hinsicht verwendet (überblicksartig zu Assimilationstheorien international und in Deutschland Aumüller 2009).

Für die weitere Integrationsforschung wegweisend war die systematische Unterscheidung verschiedener Dimensionen bzw. Formen von Integration bei Hartmut Esser (2001) und die Beschreibung der Wechselbeziehungen zwischen diesen Ebenen: Strukturelle Integration meint hierbei den Zugang zu Rechten, Positionen und Ressourcen (insbesondere Arbeitsmarktintegration und Bildungschancen); kulturelle Integration bezieht sich auf den Erwerb der (deutschen) Sprache und weiterer Kompetenzen und Fertigkeiten; unter sozialer Integration wird die Einbindung in soziale Beziehungen und Netzwerke verstanden; emotionale Integration meint die (nationale) Identifikation. Diese differenzierte Betrachtung zeigt die vielen möglichen Ausrichtungen des Integrationsbegriffs, ermöglicht klare Unterscheidungen und spezifische Analysen.

In jeder dieser Dimensionen können dann verschiedene Typen von Integration unterschieden werden (ähnlich auch das Akkulturationskonzept von John Berry, vgl. Berry/Sam 1997). Hier werden in Form eines idealtypischen Schemas vier Ausprägungen von gesellschaftlicher Teilhabe skizziert. Es wird gefragt: Ist der Referenzrahmen etwa der sozialen Kontakte, der Sprach- und Werteorientierung sowie der Identifikation lediglich die eigene Minderheit (Separation) oder ausschließlich die Mehrheit bzw. die Aufnahmegesellschaft (Assimilation) oder beides? Letzteres wird bei Berry als Integration, bei Esser als Mehrfachintegration bzw. als Inklusion bezeichnet. Die mehrfache Nicht-Integration wird als Marginalisierung bezeichnet.

Beide Modelle sind in mehrfacher Hinsicht wegweisend: Sie setzen handelnde Akteur:innen voraus, die Strategien verfolgen und sich wechselseitig aufeinander beziehen (können), es werden Rahmenbedingungen relevant usw. Diese Aspekte können begrifflich gefasst und empirisch analysiert werden. Zugleich besteht bei diesen Modellen ein Problem der Operationalisierung, indem auch sie für kulturalisierende oder defizitorientierte Analysen herangezogen werden können.

An den Modellen von Esser und Berry sollen im Folgenden drei zentrale Kritikpunkte genannt werden: (a) ein unterkomplexes Migrationsverständnis, (b) ein statisches und homogenes Gesellschaftsbild und (c) ein statisches und homogenes Verständnis von ethnischen Communitys und Minderheiten.

  1. Berücksichtigt wird prinzipiell ein einfaches und einmaliges Migrieren, Menschen wechseln den Lebensmittelpunkt in dieser Vorstellung ‚ein für alle Mal‘. Die Dynamik im Hinblick auf räumliche und nationale Referenzen, insbesondere im Hinblick auf Transnationalisierung und transnationale Migration sowie auf mehrfache Migration innerhalb einer Biografie, fehlt hier weitgehend. Unsichtbar bleibt aber etwa auch zirkuläre Migration, die von der Gleichzeitigkeit mehrerer Lebensmittelpunkte gekennzeichnet ist (vgl. Pries 2007). In diesen Fällen wäre das Vier-Felder-Schema unvollständig bzw. unterkomplex.

  2. Außerdem wurde und wird vielfach ausgeblendet, dass (liberale) Migrationsgesellschaften einem nicht zuletzt auch durch Migration herbeigeführten beschleunigten sozialen Wandel unterliegen und sich grundlegend transformieren, liberalisieren, pluralisieren, diversifizieren und ggf. polarisieren. Diese Prozesse werden etwa mit den Konzepten der „postmigrantischen Gesellschaft“ (Foroutan 2019) oder des „Integrationsparadoxes der offenen Gesellschaft“ (El-Mafaalani 2018/2020) begrifflich gefasst. Entsprechend gibt es nicht die Gesellschaft, in die man sich integrieren kann. Zudem transformieren sich grundlegende Aspekte innerhalb der Migrationsgesellschaft, für Deutschland etwa die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, was oder wer ‚deutsch‘ ist (Identität/Identifikation).

  3. Ethnische Communitys gibt es lediglich im Plural. Sie sind in vielerlei Hinsicht in sich divers, etwa im Hinblick auf die unterschiedlichen Lebensalter und Generationenzugehörigkeiten (1., 2., 3., x-te Generation), die häufig kaum gewürdigte Heterogenität des Herkunftslandes (sprachliche, religiöse und ethnische Diversität etwa in der Türkei), auf die unterschiedlichen Phasen der Zuwanderung aus einem Land (z.B. türkische ‚Gastarbeiter‘ vs. heutige Zuwanderung aus der Türkei), auf Rechtsstatus, Staatsangehörigkeit usw. Die Tatsache, dass in Migrationsgesellschaften nicht nur sehr viele Migrant:innengruppen existieren, sondern diese Gruppen in sich auch sehr divers sind, wird mit dem Begriff super-diversity erfasst (Vertovec 2007). Superdiversität spiegelt sich in unterschiedlichen Interessen und Organisationen (Migrant:innenselbstorganisationen), in uneindeutigen und hybriden Identifikationen und Identitäten, aber auch in Konflikten innerhalb und zwischen Gruppen wie auch innerhalb von Familien wider (vgl. El-Mafaalani 2020). Im Übrigen ist auch die nicht-migrierte Bevölkerung bzw. die Mehrheitsbevölkerung keineswegs homogen, insbesondere im Hinblick auf die Haltung zu Migration und (Super-)Diversität.

Nimmt man diese Kritikpunkte ernst, wird deutlich, dass im Prinzip jede (begriffliche) Annahme in den Modellen von Berry und Esser als unvollständig (zum Teil auch als dysfunktional) erscheinen muss, und zwar sowohl im Hinblick auf die Anzahl als auch auf die Bestimmung der Referenzrahmen. Hinzu kommt, dass Grautöne und Zwischenräume sowie dynamische Wechselbeziehungen in ihrer Relevanz zu wenig sichtbar werden.

Vor dem Hintergrund der Unterkomplexität jener Modelle haben sich im wissenschaftlichen Integrationsdiskurs neue Begriffe bzw. neue Begriffsbestimmungen etabliert, unter anderem Inklusion, Intersektionalität, Diversity, Differenzsensibilität, Herrschafts- und Diskriminierungskritik und nicht zuletzt: Teilhabe und Partizipation – Begriffe also, die weder migrationsspezifisch sind noch Statik und Homogenität unterstellen. Vielfach wird dementsprechend der Integrationsbegriff abgelehnt, wobei diese Ablehnung häufig auf den öffentlichen und politischen Diskurs bezogen wird, manchmal aber auch auf den wissenschaftlichen (zur Kritik am Integrationsdiskurs vgl. Lingen-Ali/Mecheril 2020).

Zeitgemäße Integrationsverständnisse müssen den Anforderungen einer „reflexiven Migrationsforschung“ (vgl. Nieswand/Drotbohm 2014) entsprechend die Paradigmen, Begriffe und Traditionen des Forschens und der Wissensproduktion kritisch hinterfragen und dieses kritische Hinterfragen zum Ausgangspunkt der eigenen Forschung machen. Zu einem reflexiven Umgang mit dem Integrationsbegriff gehört etwa auch die Reflexion der Folgen der Forschung, nämlich dass bei einer besonders stark und umfassend beobachteten Gruppe (a) viel mehr (problematisierbares) Verhalten identifiziert werden kann (nur wo gesucht wird, kann gefunden werden) und dass (b) diese Gruppe besonders ‚streng‘ bewertet werden kann bzw. Bewertungsmaßstäben unterworfen wird, die ansonsten an keine andere Gruppe angelegt werden (zweierlei Maß) (vgl. hierzu u.a. El-Mafaalani 2021a).

Reflexive Begriffsbestimmungen zeichnen sich gerade nicht durch Klarheit und Übersichtlichkeit aus, sondern erweitern durch das systematische Sichtbarmachen von vielschichtigen Ambivalenzen, Dilemmata und Konfliktlinien, aber auch von Kompetenz- und Erfahrungsreichtum sowie Innovationsfähigkeit das Blickfeld empirischer Forschung. Das bedeutet gleichzeitig nicht, dass etablierte Ansätze ihre Berechtigung verlieren, sondern lediglich, dass sie erweiterungsbedürftig erscheinen.

Fazit

Ähnlich wie der Begriff ‚Migrationshintergrund‘ markierte auch der Begriff ‚Integration‘ zunächst einen Fortschritt im öffentlichen Diskurs, weil durch diese Begriffe Themen aufgeworfen werden konnten, die zuvor wenig oder keine Aufmerksamkeit erfuhren. Daher erscheint es nicht zufällig, dass beide Begriffe in einem ähnlichen Kontext im öffentlichen Diskurs in Erscheinung traten. Beide Begriffe werden heute zunehmend kritisch gesehen und zum Teil abgelehnt. Für den Integrationsbegriff ist diese Kritik berechtigt, sofern mit ihm Praktiken der Markierung und Disziplinierung migrantisierter Bevölkerungsgruppen einhergehen, es sich also weiterhin um ein einseitiges Verständnis von Integration handelt. Derzeit lassen sich zwei neuere Tendenzen beobachten: Zum einen wird der Begriff in einer erweiterten Bedeutung verwendet, also als offener und breiter Begriff, zum anderen wird er ersetzt durch Begriffe wie Teilhabe oder Inklusion.

Integration bedeutet grundsätzlich, dass der Anteil der Menschen, die teilhaben können und wollen, wächst. Das bedeutet dann aber auch, dass der Anteil der Menschen, die ihre Bedürfnisse und Interessen selbstbewusst artikulieren, wächst – dies gilt unter anderem auch für Frauen, behinderte Menschen, LSBTIQ+ und zunehmend auch für Menschen mit Migrationshintergrund. Gelungene Integration steigert entsprechend das Konfliktpotenzial in einer Gesellschaft. Zunächst sind es Konflikte um soziale Positionen und Ressourcen (strukturelle Integration), in der Folge werden auch soziale Privilegien und kulturelle Dominanzverhältnisse infrage gestellt und neu ausgehandelt. Es handelt sich also um grundlegende, die Gesellschaft verändernde Konflikte (El-Mafaalani 2020). Und damit verändern sich die Rahmenbedingungen für Integration: Dies gilt sowohl im Hinblick auf Verteilungskonflikte (strukturelle Integration) als auch im Hinblick auf kulturelle und soziale Fragen sowie auf Identitäten (was/wer ist ‚deutsch‘?). „Integration ist keine Einbahnstraße“ (Bade 2001) – weder im Hinblick auf Voraussetzungen, Bereitschaft und Rahmenbedingungen noch auf ihre Wirkungen und Effekte.

Lite­ra­tur

Zum Weiterlesen

El-Mafaalani, Aladin (2020): Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, Köln: KiWi.

El-Mafaalani, Aladin (2011): „Ungleiches ungleich behandeln! Inklusion bedeutet Umdenken“, in: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 2, S. 39–42.

Esser, Hartmut (2001): Integration und ethnische Schichtung, Mannheim: Mannheimer Zentrum für Sozialforschung.

Foroutan, Naika (2019): Die postmigrantische Gesellschaft, Bielefeld: transcript.

Lingen-Ali, Ulrike/Mecheril, Paul (2020): „Integration – Kritik einer Disziplinierungspraxis“, in: Gert Pickel/Oliver Decker/Steffen Kailitz/Antje Röder/Julia Schulze Wessel (Hg.), Handbuch Integration, Wiesbaden: Springer VS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21570-5_11-1.

Zitierte Literatur

Aumüller, Jutta (2009): Assimilation. Kontroversen über ein migrationspolitisches Konzept, Bielefeld: transcript.

Bade, Klaus J. (2001): „Einleitung: Integration und Illegalität“, in: ders. (Hg.), Integration und Illegalität in Deutschland, Osnabrück: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, S. 7–10.

Berry, John/Sam, David (1997): „Acculturation and Adaptation“, in: John Berry/Marshall Segall/Cigdem Kagitcibasi (Hg.), Social Behavior and Applications (= Handbook of Cross Cultural Psychology, Bd. 3), Needham Heights: Allyn & Bacon, S. 291–326.

El-Mafaalani, Aladin (2021a): Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand, Köln: KiWi.

El-Mafaalani, Aladin (2020): Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, erw. Neuausg., Köln: KiWi.

Esser, Hartmut (2001): Integration und ethnische Schichtung, Mannheim: Mannheimer Zentrum für Sozialforschung.

Foroutan, Naika (2019): Die postmigrantische Gesellschaft, Bielefeld: transcript.

Lingen-Ali, Ulrike/Mecheril, Paul (2020): „Integration – Kritik einer Disziplinierungspraxis“, in: Gert Pickel/Oliver Decker/Steffen Kailitz/Antje Röder/Julia Schulze Wessel (Hg.), Handbuch Integration, Wiesbaden: Springer VS, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21570-5_11-1.

Nieswand, Boris/Drotbohm, Heike (Hg.) (2014): Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung, Wiesbaden: Springer VS.

Oltmer, Jochen/Kreienbrink, Axel/Sanz Diaz, Carlos (Hg.) (2012): Das „Gastarbeiter“-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München: Oldenbourg.

Pries, Ludger (2007): Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Vertovec, Steven (2007): „Super-diversity and its implications“, in: Ethnic and Racial Studies 30 (6), S. 1024–1054.

index