Entstehungsbedingungen der ersten Leitkulturdebatte
Eigentlich ist es verwunderlich, dass der Begriff Leitkultur von 1998 bis ins Jahr 2022 drei Integrationsdebatten auslöste (in den Jahren 2000, 2005/2006 und 2017). Denn die wissenschaftlich und politisch bekannten Verantwortlichen der ersten Debatte (2000), Bassam Tibi, der ehemalige Berliner Innensenator Jörg Schönbohm und der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz, distanzierten sich Anfang und Mitte der 2000er Jahre vom Begriff oder gaben die Hoffnung auf, die sie anfangs mit ihm verbunden hatten (Merz 2001; Schönbohm 2006; Tibi 2006). Zu Beginn der Debatte teilten sie gemeinsam die Auffassung, dass die Achtung des Grundgesetzes nicht genügen könne, eine von kultureller Vielfalt bestimmte Gesellschaft zusammenzuhalten. Tatsächlich überlagern sich die Begriffe Leitkultur und Verfassung (Grundgesetz) in allen drei Leitkulturdebatten. Dabei ist der gesellschaftspolitische Entstehungszusammenhang, in dem der Bezug auf das Grundgesetz zu einer wichtigen identitätspolitischen Referenz avancierte, ein anderer als der der Leitkultur.
Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre unternahm der bekannte Politikwissenschaftler Dolf Sternberger (Doktorvater Helmut Kohls) mit dem Begriff des Verfassungspatriotismus den Versuch, sich gegen die linksliberal basisdemokratischen und antiautoritären Bewegungen in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre zu positionieren (Sternberger 1982: 17). Die Anrufung, die Sternberger in Vertretung für viele andere in den 1980er Jahren mit dem Begriff des Verfassungspatriotismus unternahm, war eine von Deutschen zu Deutschen. Alle zusammen, ob rechtskonservativ oder linksliberal, sollten den Verfassungsstaat als eine Art „Vaterland empfinden“ (ebd.: 7). Die damals in Deutschland seit knapp zwei Dekaden ansässigen Zugewanderten waren nicht Teil der Angerufenen, weil sie weiterhin als Ausländer:innen galten. Der Begriff des Ausländers verwirrte jedoch zunehmend, denn neben den mittlerweile in zweiter Generation im Land lebenden Arbeitsmigrant:innen wurden selbst deutschstämmige Spätaussiedler:innen entgegen der Politik der Bundesregierung im Alltag nicht als der Bundesrepublik Zugehörige, sondern ebenfalls als Ausländer:innen wahrgenommen (Herbert 2001: 276). Als dann die angehende Lehrerin Fereshta Ludin den Wunsch formulierte, mit Kopftuch in den Staatsdienst eintreten zu wollen, wurde die Einwanderungsrealität in der BRD politisch wie auch institutionell-repräsentativ äußerst konkret. Eine konservative Reaktion auf diese Entwicklung war die aufkommende Rede von der Leitkultur. Im Unterschied zu den gesellschaftspolitischen Bedingungen des Verfassungspatriotismus ging es nun darum, „die durch Zuwanderung bereits entstandene, gewissermaßen bloß sinnlich-physische Anwesenheit der Fremden in den Tatbestand ihrer Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft zu verwandeln“ (Preuss 2011: 480). Oder darum, dass – wie es Mark Terkessidis 2000 auf den Punkt brachte – zumindest eine Sache Befürworter:innen wie Gegner:innen des Leitkulturbegriffs eint: „Die deutsche Gesellschaft ist längst kulturell differenziert. Nur über die Bewertung wird gestritten“ (Terkessidis 2000: 472). Dabei ist bemerkenswert, wie vielfältig die Verteidigung und die Kritik des Begriffs in der ersten Debatte sind.