Einleitung: Normalfall Migration
Migration ist die „Mutter aller Probleme“. Zu diesem Schluss kam der ehemalige Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat Horst Seehofer in einem Zeitungsinterview im Nachgang fremdenfeindlicher Proteste in Chemnitz im September 2018.1 Die politische Gegenreaktion auf dieses Statement ließ nicht lange auf sich warten: Auf einer Demonstration des antirassistischen Bündnisses Welcome United in Hamburg im selben Monat wurde Seehofers Formulierung subversiv umgedeutet und Migration zur „Mutter aller Gesellschaften“ erklärt. Ein Foto des Transparents verbreitete sich auf Twitter in Minutenschnelle und der Slogan wurde in der Öffentlichkeit in der Folge immer wieder aufgegriffen.2 So gegensätzlich die Perspektiven auf Migration heute auch sein mögen, tatsächlich steht das Thema nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Einwanderungsländern schon seit einiger Zeit im Zentrum gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen um Fragen der Zugehörigkeit, Teilhabe und Globalisierung. Ob Bedrohungswahrnehmung oder Bereicherungshoffnung, quer durch die politischen Lager gilt: Eine Gesellschaft, ja eine Welt ohne Migration scheint heute kaum mehr vorstellbar. Dies steht durchaus im Einklang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen: Migration wird in der Sozialforschung seit den 1990er Jahren zunehmend als zivilisatorischer „Normalfall“ betrachtet (Bade/Oltmer 2004). Die Einsicht, dass „Migration eine Konstante der Menschheitsgeschichte“ darstellt, ist auch im deutschsprachigen Raum längst in der populären Vorstellungswelt angekommen. So wurde 2019 eine Ausstellung im Bernischen Historischen Museum mit dem Titel „Homo migrans. 2 Millionen Jahre unterwegs“ eröffnet, die den Anspruch hatte, „einen großen zeitlichen Bogen von den ersten Menschen in Afrika“ bis hin zur „multikulturellen Schweizer Fußballnationalmannschaft“ zu schlagen.3 Hält man sich die obsessiv anmutende Omnipräsenz des Themas Migration in der Öffentlichkeit heute vor Augen, dann mag man kaum glauben, dass das Wort ‚Migration‘ im Deutschen noch vor wenigen Jahrzehnten tatsächlich kaum geläufig war. So findet man noch in den 1970er Jahren in der Brockhaus-Enzyklopädie unter dem Eintrag „Migration“ nur einen kurzen Verweis auf die Zoologie bzw. die Wanderung von Tieren.4 In dieselbe Richtung deutet ein populärkulturelles Beispiel aus derselben Zeit: Auf der Rätselseite der Schweizer Illustrierten wurden Leser:innen regelmäßig nach der Bedeutung von wenig geläufigen Fremdwörtern gefragt. Im Juni 1976 konnten sie hier unter anderem auch zwischen drei möglichen Definitionen von „Migration“ auswählen: „Notration für MiG-Piloten“ oder „Wanderung der Zugvögel“ oder „eine miese Gratifikation“.5 Die aus heutiger Sicht befremdlich und unfreiwillig komisch wirkenden Antwortmöglichkeiten zeigen, wie wenig ein Begriff, den wir heute kaum mehr aus unserem Leben wegdenken können, damals alltagssprachlich etabliert war. Ein Blick in den Ngram Viewer von Google, der die Auftretenshäufigkeit von einzelnen Wörtern in digitalisierten Publikationen abbildet, legt nahe, dass sich der Befund durchaus verallgemeinern lässt.
Abb. 1: „Konjunkturen des Begriffs Migration“, in: Google Books Ngram Viewer, Suche vom 07.01.20226
Lässt man zoologische Referenzen hier außer Acht, dann verbreitete sich das Wort ‚Migration‘, das im Deutschen lange nur marginal in Fachdiskursen verwendet wurde, ab Mitte der 1960er Jahre zunächst zaghaft und setzte erst ab den späten 1980 Jahren zu einer erstaunlichen diskursiven Konjunktur an, die unsere heutige Vorstellung von Migration als ‚Mutter‘ aller möglichen Dinge geprägt hat.
Doch was heißt Migration denn nun eigentlich? Folgt man der aktuellen Definition der UNO, dann handelt es sich bei Migration um jeden längerfristigen Wohnortwechsel über nationale Grenzen hinweg ebenso wie innerhalb eines Staates. Die öffentlichen Kontroversen um Migration zeigen jedoch, dass sich das Thema nicht in einer solchen Definition von demografischen Kategorien erschöpft. Die gesellschaftlichen Debatten, Vorstellungen und Bilder zum Thema Migration sind ebenso vielzählig wie vielschichtig – und nicht selten auch widersprüchlich. Wenn man wissen will, was Migration heute bedeutet, helfen Fachdefinitionen kaum weiter. Produktiver ist es vielmehr, historisch zu rekonstruieren, was über die Zeit alles mit dem Begriff verbunden wurde. Seit seinem Entstehen in den 1960er Jahren haben sich nach und nach immer mehr Themen in den Migrationsdiskurs eingeschrieben und abgelagert: von Modernisierung, globalen Wohlstandsunterschieden und ausländischen Arbeitskräften über das Asylwesen, kulturelle Differenz, soziale Kohäsion, Integration und nationale Identität bis hin zu Rassismus, Geschlechterverhältnisse und die Zukunft der Sozialversicherungen. Migration ist heute eben längst nicht nur ein Name für grenzüberschreitende Bevölkerungsbewegungen, sondern ein schillerndes öffentliches Streitobjekt, um das sich Migrationsgesellschaften drehen und über das sie sich ein Stück weit auch konstituieren. Das Streiten über Migration ist seit den 1960er Jahren zunehmend vom Rand ins Zentrum gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse gerückt, nicht nur im deutschsprachigen Raum (Labor Migration 2014; Espahangizi 2018). Der Blick auf Länder wie Deutschland, Österreich und die Schweiz erlaubt es jedoch, diesen historischen Wandel entlang des Aufstiegs ebenjenes Wortes nachzuvollziehen, das im Englischen und Französischen schon länger geläufig ist: Migration.7