‚Muttersprache und Vaterland‘ (Problemaufriss)
Der Begriff Muttersprache wird meist im übertragenen Sinne gebraucht. Das Bestimmungswort Mutter steht für die Familie oder für primäre Bezugspersonen, an die der Erstspracherwerb gebunden ist. Die Äußerung „Meine Muttersprache ist X“ kann dann übersetzt werden in „X ist meine Erst- und Familiensprache“. Zugleich verdichtet sich in dieser Zusammensetzung ein Metaphernkomplex, der an die wörtliche Lesart ‚Sprache der Mutter‘ anknüpft und Vorstellungen rund um ‚Verwandtschaft‘ miteinander vernetzt.
Folgt man diesem metaphorischen Faden, so gelangt man allmählich von (i) biologisierenden über (ii) ethnisierende hin zu (iii) nationalisierenden Vorstellungen. (i) Die Muttersprache hat man gleichsam ‚mit der Muttermilch aufgesogen‘, sie wurde einem ‚vererbt‘. (ii) Sie ist die Sprache des ‚Volkes‘, von dem man ‚abstammt‘ (wie auch Sprachen sich in ‚Stammbäumen‘ anordnen lassen). (iii) In der binomischen Formel ‚Muttersprache und Vaterland‘ scheint schließlich das Bild einer quasi-natürlichen Einheit von Sprache und Nation auf. Ein Land, seine Bevölkerung und seine Sprache bilden darin eine große Familie. Wer in diese Familie hineingeboren wird, bekommt deren Sprache wie ein Geburtsrecht in die Wiege gelegt. Geboren ist der Native Speaker. Wer ein Native Speaker ist, der oder die besitzt eine Kompetenz in seiner oder ihrer Sprache, die andere Menschen, die diese Sprache später lernen, kaum, ja eigentlich nie erreichen können. Irgendwie ist da doch dieser leichte Akzent zu hören, findet sich der eine oder andere grammatische Fehler, taucht eine seltsame Formulierung auf.
Was für Vorstellungen über die soziale Welt im Allgemeinen gilt, gilt auch für Sprachvorstellungen: Sie können mittelbar auf die soziale Welt selbst einwirken und Wirklichkeit schaffen – dadurch nämlich, dass die sozialen Akteure ihr Handeln an ihnen ausrichten. Bei Stellenausschreibungen für Sprachlehrkräfte ist es Usus, ein ‚Muttersprachniveau‘ als Einstellungsvoraussetzung anzugeben. Entscheidend ist offenbar nicht die sprachpädagogische Qualifizierung, sondern ein spezifisches soziales Profil, bei dem die als angeboren imaginierte Sprachkompetenz mit einer bestimmten (National-)Sprache und der ‚Ethnie‘1 eines Menschen verschmolzen ist. Ein solchen Vorstellungen zugrunde liegendes kollektives Unbewusstes kann als diskriminierende Praxis wirkmächtig werden:
On Thursday, July 12, 1990, the Singapore newspaper The Straits Times listed the following advertisement: ‚Established private school urgently requires native speaking expatriate English teachers for foreign students.‘ By Saturday, July 14, the advertisement had been changed as such: ‚Established private school urgently requires native speaking Caucasian English teachers for foreign students.‘ […] It does not require great powers of speculation to imagine the events and discussions at The Straits Times on that Friday the Thirteenth, an inauspicious day for the Anglophone applicants whose appearance did not conform to a certain stereotype. (Bonfiglio 2010: 1) 2
In der Stellenausschreibung wird explizit, was meist implizit bleibt: die ethnisierende oder rassialisierende Dimension des Muttersprachbegriffs. Sie macht das Erreichen von ‚guten‘ Sprachkompetenzen für Menschen, die als „Migrationsandere“ (Paul Mecheril) positioniert sind, gleichermaßen zu einem – sich in den Integrationsdiskursen manifestierenden – Imperativ und zu einem fernen, unerreichbaren Ideal. Einerseits „entscheiden die Fähigkeit zur Nicht-Abweichung, die Beherrschung der Norm, die Akzentfreiheit symbolisch über die Zugehörigkeit“ (Gümüşay 2020: 35). Andererseits scheint diese Zugehörigkeit etwas zu sein, das nicht zugestanden wird. Das kommt nicht zuletzt in jenen – zweifellos mit besten Absichten vorgebrachten – zweischneidigen Komplimenten vom Typ „Sie sprechen aber gut Deutsch!“ zum Ausdruck. Dieser „native-speakerism“ (Holliday 2006) erzeugt einen unablässigen Rechtfertigungs- und Beweiszwang:
Wenn wir eine Sprache – die Sprache der Mehrheitsgesellschaft – erst in der Schule erlernen, wenn unsere Muttersprache den anderen nicht vertraut ist, so betreten wir den Raum als Fremde. Die Sprache ist die der anderen, nicht unsere. Wir bemühen uns, sie zu erlernen, sie zu beherrschen, in ihr zu kommunizieren. Irgendwann perfektionieren wir sie – irgendwann fühlen wir, sie ist unsere Sprache. Wir beherrschen keine andere so gut wie das Deutsche, und doch müssen wir unser Zuhausesein in dieser Sprache verteidigen. (Gümüşay 2020: 34)
Der Muttersprachbegriff und der ihm eingeprägte native-speakerism hängen mit einem Vorstellungskomplex zusammen, der für nationalstaatliche Verhältnisse charakteristisch ist: die Homogenisierung von Sprache(n), Sprachkompetenzen und Sprachverhältnissen. Dabei wird offenbar die Vorstellung von den einsprachigen gesellschaftlichen Verhältnissen als Selbstbild des Nationalstaats übertragen auf die Sprachkompetenzen des Individuums, dessen sprachliche Ressourcen (Wortschatz, Grammatik, Sprechweisen) mit den Ressourcen der ‚Nationalsprache‘ gleichgesetzt werden. Letztere werden ihrerseits mit den – relativ einheitlichen, in Wörterbüchern oder Grammatiken kodifizierten – Standardformen dieser Sprache identifiziert.
Abb. 1: Sprache und Nationalstaat: ein Komplex aus homogenisierenden Sprachvorstellungen
Dieser Komplex aus homogenisierenden Sprachvorstellungen kann als Matrix für allerhand Normalitätsannahmen oder normative Forderungen fungieren, in denen sich seine Wirkmächtigkeit zeigt. Zu den migrationsgesellschaftlich folgenreichsten Effekten solcher Normalitätsannahmen gehören die Ausblendung oder Stigmatisierung von Mehrsprachigkeit.
Zunächst einmal wird die historische wie gegenwärtige Existenz der Sprachenvielfalt verschleiert, also die einerseits immer schon vorhandene und andererseits für ein Einwanderungsland typische Koexistenz mehrerer Sprachen. Dazu gehören – mit Blick auf Deutschland – sowohl autochthone (‚alteingesessene‘) Sprachen wie Saterfriesisch oder Sorbisch als auch allochthone (durch Migration hinzugekommene) Sprachen wie Arabisch oder Russisch. Tendenziell unsichtbar bleibt damit auch, dass der Wechsel zwischen diesen Sprachen und dem (Hoch-)Deutschen für viele Menschen zum Alltag gehört, also Teil ihrer Normalität ist. Kommt diese lebensweltliche Mehrsprachigkeit doch in den Blick, etwa unter schulpolitischen Vorzeichen, so wird sie nicht selten als ‚doppelte Halbsprachigkeit‘ stigmatisiert.
Die Ausblendung und Stigmatisierung von Mehrsprachigkeit in diesem Sinne kann offensichtlich auch durch ideologische Interessen motiviert sein, die sich Sprachfragen zunutze machen, um symbolisch wirksam einen Diskurs über die Dichotomie zwischen dem Eigenen und dem Fremden heraufzubeschwören, um auf diesem Feld migrationspolitische Stellvertreterkriege zu führen. Dieser Diskurs der Ausgrenzung – von Leitkulturdebatten bis zu offenem Rassismus – zielt in den vergangenen Jahren insbesondere auf Muslim:innen und ‚den‘ Islam ab.
Woher aber kommen solche homogenisierenden Vorstellungen? Und woher bekommen sie diesen Sog der Selbstverständlichkeit? Ein Blick auf die Geschichte und Struktur der nationalstaatlichen Sprachverhältnisse weist den Weg für Erklärungen.