Einleitung
Der Ausgangspunkt der postmigrantischen Idee ist, dass Migrations- und Mobilitätsbewegungen alle Gesellschaften von Anfang an geprägt haben und immer noch prägen, auch wenn dies im öffentlichen Bewusstsein kaum verankert ist. Gesellschaftsgeschichten sind immer auch Migrationsgeschichten. Selbst in ‚alteingesessenen‘ Familien finden wir bei genauer Betrachtung einen sogenannten ‚Migrationshintergrund‘. So betrachtet gehören Mobilitätserfahrungen zur Familiengeschichte der allermeisten Menschen.
Wenn man auf den Umgang mit Migration im deutschsprachigen Raum in den letzten 70 Jahren zurückblickt, wird jedoch deutlich, dass diese Perspektive in den jeweiligen nationalen Erzählungen nicht vorgesehen und mit dem nationalen Denken nicht kompatibel zu sein scheint. Obwohl heute von der zweiten, dritten, ja sogar vierten Generation von Migrierenden die Rede ist, wird in der konventionellen Migrationsforschung weiterhin zwischen Migrant:innen und Einheimischen eine wertende Unterscheidung vorgenommen. Dieses Differenzdenken hat eine Normalität erzeugt, die in vielen wissenschaftlichen Studien und öffentlichen Debatten bis heute nachwirkt. Dazu gehören auch das Denken und Forschen in ethnischen und nationalen Kategorien, das zur Etablierung eines nach Herkünften sortierenden ‚Migrantismus‘ geführt hat. Solche kategorialen Klassifizierungen sind also nicht neutral, sondern tradieren gewisse Bedeutungen, prägen gesellschaftliche Auseinandersetzungen, reproduzieren und legitimieren Normalitäten und gelten dementsprechend als „wirkmächtige Erkenntnisinstrumente“ (Bettini 2018: 25).
Diese durch den postkolonialen Diskurs inspirierte Kritik am Migrantismus hat in den letzten Jahren zunehmend an wissenschaftlicher wie gesellschaftlicher Relevanz gewonnen. Sie setzt sich mit ethnisch-nationalen Sortierungen auseinander, die auf eingeübten Klassifikationen und Dualismen beruhen, hinterfragt historisch tradierte Gewissheiten und Kontinuitäten und richtet den Fokus auf marginalisierte Perspektiven und Diskontinuitäten, die mehr Denk- und Deutungsalternativen ermöglichen. Der Begriff des ‚Postmigrantische‘ wird in den letzten Jahren in unterschiedlichen Kontexten diskutiert und umfasst eine Reihe von Ideen, Perspektiven und Visionen in unserer in hohem Maße diversen Gesellschaft.
Im Folgenden beschreibe ich zunächst die Genealogie des Postmigrantischen und gehe anschließend auf drei Perspektiven ein, die mir in diesem Kontext besonders relevant erscheinen: Eine betrifft die historische Entwicklung (Neuerzählung der Migrationsgeschichte), eine zweite die gegenwärtige Situation (postmigrantische Generation) und die dritte eine auf die Zukunft ausgerichtete Sicht auf Migration und Vielheit (Migrationsforschung als Gesellschaftsanalyse).