Begriffliche Lücken
Ob der Begriff ‚Rasse‘1 ohne die rassistischen Morde in Hanau im Februar 2020, die Black-Lives-Matter-Bewegung im Sommer 2020 und die präzedenzlose Rassismusdebatte, die diese Ereignisse auslösten, überhaupt in dieses migrationshistorische Inventar aufgenommen worden wäre? 2 Davor hatten sich selbst rassismuskritische Migrationsforscher:innen in Deutschland mit ‚Rasse‘ bzw. race nur wenig konzeptionell auseinandergesetzt. ‚Rasse‘ war vielmehr gerade im deutschsprachigen Kontext das Unwort an sich, das den rassismuskritischen Ansatz und Rassismusforschung, die auf die Geschichte und Gegenwart der Einwanderungsgesellschaft Deutschland bzw. deren Migrationsgeschichte fokussierte, mehr oder minder verunmöglichte (z.B. Barskanmaz 2011). Dagegen dominierte die Auffassung, dass die „Kontamination“ des Begriffs ‚Rasse‘ durch den Nationalsozialismus seine Nutzung als analytisches Konzept in Deutschland nicht zulasse, schon gar nicht in Bezug auf Migration (Berg/Schor/Sotto 2014: 807).
Das „Drohwort Rasse“ (Tsianos 2020) hat also durchaus einen Anteil an der prekären Lage der Rassismusforschung (Alexopoulou 2021a) sowie der allgemeinen „Verknappung“ des Rassismusbegriffs (Bojadžijev 2015: 49) in Deutschland. Diese Lücken tragen wiederum zur terminologischen Verwirrung um die Begriffe ‚Rasse‘/race und Rassismus bei, insbesondere im politischen, medialen und akademischen Mainstream. Allerdings sind diese Begriffe selbst in der Rassismusforschung nicht klar definiert; ob ‚Rasse‘ bzw. race überhaupt ein notwendiges analytisches Konzept darstellt und wenn ja, was es genau bedeutet, wird innerhalb der unterschiedlichen Denkschulen ebenso uneinheitlich bewertet wie die Frage, ob es durch ‚Rassialisierung‘ oder ‚rassistische Differenz‘ ersetzbar ist (Hund 2016; Tsianos 2020; Liebscher 2021, bes. 143–149, 460ff.).3
Kein Wunder also, dass auch lebensweltlich kein geschärftes Bewusstsein darüber vorhanden ist, was ‚Rasse‘/race bedeuten. Der Blick auf die zahllosen medialen ‚Aufregungsdiskurse‘ lohnt dennoch, da in ihnen erkennbar wird, welche Wissensbestände darüber aktuell kursieren. So gewinnt man etwa bei der Analyse der verbalen Attacken des Comedians Dieter Nuhr gegen die Sachbuchautorin Alice Hasters im November 2020 den Eindruck, dass „Rasse“ durchaus noch als eine reale Differenzkategorie verstanden wird. Nuhr hatte Hasters in seiner TV-Sendung wegen ihres Buchs „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen“ angegriffen und ihr Rassismus gegenüber „Weißen“ (wie ihm selbst) vorgeworfen. Wenn „Einzelpersonen aufgrund von Gruppenzugehörigkeit“ von Einzelpersonen einer anderen Gruppe – also „Rasse“ – diskriminiert würden, dann sei das Rassismus. Das dürfte die Logik sein hinter Nuhrs Vorwurf an Alice Hasters, sie sei selbst eine Rassistin,4 eine Argumentation, die im Grunde auf die Idee eines naturförmigen, anthropologisch gegebenen Hasses (und Kampfes) zwischen den „Rassen“ zurückgeht, was dann als Rassismus verstanden wird. Dabei ignorieren Nuhr und andere ähnlich Denkende offenbar, dass die Autorin weiß wie Schwarz5 als soziale Konstrukte versteht, die in asymmetrischen Machtverhältnissen zueinander stehen, und nicht (primär) als phänotypische Differenzen, die zwei oder mehrere kategorial verschiedene Menschengruppen ausmachen.
Der aktuellen Rassismusdebatte in Deutschland wäre es sicherlich zuträglich, wenn dieser semantische Unterschied zwischen race als einem sozialen, historisch gemachten und sich wandelnden Konstrukt und „Rasse“ als (gedachter) natürlicher Kategorie bewusst wäre. Darüber hinaus wäre es auch mit Blick auf die historisch gewachsenen Realitäten einer herkunftsheterogenen Einwanderungsgesellschaft nötig, in der gerade aufgeregt geführten Debatte darüber, was als Rassismus bezeichnet werden kann und was nicht, folgende übergreifenden Fragen zu fokussieren: Wer verkörpert und definiert die Norm und die Abweichung und damit das Andere? Wer hat die Definitions- und sonstige Macht innerhalb des gegebenen Systems? Welche sozialen und (macht)politischen Praktiken produzier(t)en diese „splittings“6 und welche Folgen hatten und haben diese in der langen Dauer?
Gerade der mit diesen Fragen adressierte Machtaspekt, der trotz aller Unterschiede für alle modernen Rassismustheorien konstitutiv sein dürfte, erklärt auch, warum es aus einer rassismuskritischen Perspektive kaum Sinn ergibt, über „Rasse“/race zu schreiben, ohne gleichzeitig Rassismus mitzudenken. Denn trotz der wechselvollen und langen Geschichte des Begriffs ‚Rasse‘, der etymologisch auf das spanische ‚raza‘ und sinngemäß gar in die Antike zurückgeführt werden kann (z.B. Wulff 2016), ist diese Kategorie seit der Hoch-Zeit der Rassismen, die ereignishistorisch im ‚Dritten Reich‘ gipfelte und vermeintlich das Ende des Rassismus und der „Rasse“ zumindest in Deutschland bedeutete, untrennbar damit verbunden.
Im Folgenden wird es zunächst um Bedeutungsdimensionen von „Rasse“ und race und deren Unterscheidung gehen, um anschließend kurz zu umreißen, wie diese Wissensbestände im Blurring mit anderen Konzeptionen weiterwirkten.