Ursprünge des Rechtsbegriffs
Der Begriff ‚Aussiedler‘ entstammt dem bundesdeutschen Vertriebenenrecht der unmittelbaren Nachkriegszeit. Er wurde erstmals im Bundesgesetz für die Vertriebenen und Flüchtlinge (kurz Bundesvertriebenengesetz oder BVFG) vom 19. Mai 1953 definiert. Als Unterkategorie des zentralen Begriffs des Gesetzes, ‚Vertriebener‘, wurde er folgendermaßen konzipiert:
„Als Vertriebener gilt, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger […] nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien oder Albanien verlassen hat oder verläßt, es sei denn, dass er erst nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler).“ (§ 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG)
Aussiedler:innen galten somit als Vertriebene, obwohl sie per definitionem ihre Herkunftsländer erst verließen, nachdem die eigentliche Vertreibung von Bewohner:innen der ehemaligen ‚deutschen Ostgebiete‘ (z.B. Schlesien und Ostpreußen) und sogenannten ‚volksdeutschen‘ Bürger:innen der Staaten des östlichen Europas (v.a. der Tschechoslowakei) bereits stattgefunden hatte. Trotz der massenhaften Flucht und Vertreibung von über 12 Millionen Menschen am Ende des Zweiten Weltkriegs waren nach wie vor Angehörige deutschsprachiger Minderheiten in den betreffenden Regionen verblieben. Nach Abschluss der durch das Potsdamer Abkommen definierten ‚allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen‘ in den Jahren 1947/48 errichteten die kommunistischen Regierungen der osteuropäischen Staaten strikte Grenzregime, sodass eine Ausreise kaum mehr möglich war. Ab 1950 kamen aber in begrenztem Maße (ehemalige) deutsche Staatsbürger:innen und ‚deutsche Volkszugehörige‘ aus Polen und anderen Ländern im Rahmen humanitärer Aktionen zur Familienzusammenführung in beide deutsche Staaten. Für sie war ursprünglich die Kategorie ‚Aussiedler‘ vorgesehen, die sie in der Bundesrepublik mit den ‚echten‘ Vertriebenen – darunter ihre Angehörigen – gleichstellte. Die Gleichstellung wurde später noch expliziter, als die Formulierung „als Vertriebener gilt“ im BVFG in „Vertriebener ist auch“ geändert wurde.
Der Begriff ‚Aussiedler‘ schloss an das technokratische Vokabular von ‚Siedlung‘ und ‚Siedlern‘ an, das zuvor schon zum Repertoire der NS-Bevölkerungspolitik gehörte, die Menschen in den besetzten Gebieten Osteuropas ‚umsiedelte‘, ‚ansiedelte‘, ‚absiedelte‘ etc. Auch die Behörden in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. ab 1949 der DDR griffen auf diese Terminologie zurück, als sie die deutschen Zwangsmigrant:innen aus dem östlichen Europa ihrerseits als ‚Umsiedler‘ bezeichneten. Migrantische Agency ist in diesem Wortfeld kaum vorgesehen: Auch wenn eine aktive Verbform denkbar ist („XYZ siedelt aus bzw. siedelt um“), liegt im Sprachgebrauch eine Passivkonstruktion näher („XYZ wird ausgesiedelt bzw. umgesiedelt“).
Das Vokabular von ‚Aussiedlern‘ und ‚Aussiedlung‘ war in Westdeutschland anfangs nicht unumstritten, allerdings nicht wegen der terminologischen Nähe zur NS-Siedlungspolitik. Als politisch problematisch galt vielmehr, dass die ‚Aussiedlung‘ der zunächst noch in den ehemaligen Ostgebieten verbliebenen Deutschen einen Verzicht auf diese Gebiete hätte implizieren können (vgl. Panagiotidis 2019: 41). Hintergrund war die grundsätzlich bis 1990 bestehende Position der Bundesregierung, dass die durch den Potsdamer Vertrag Polen und der Sowjetunion zugesprochenen Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie nur vorübergehend unter fremder Verwaltung stünden. Die andauernde Präsenz einer deutschen Minderheit in diesen Regionen konnte dazu dienen, den bundesdeutschen Anspruch auf ihre spätere Wiederangliederung aufrechtzuerhalten (die DDR hatte die Oder-Neiße-Grenze bereits im Görlitzer Vertrag von 1950 anerkannt). Statt von ‚Aussiedlung‘ wurde daher in offiziellen Kontexten auch von der ‚Übernahme‘ der betreffenden Menschen in die Bundesrepublik Deutschland gesprochen. Für die dabei ‚übernommenen‘ Personen setzte sich aber der rechtlich festgelegte Begriff ‚Aussiedler‘ weitgehend durch, wobei sich in der zeitgenössischen Berichterstattung auch Alternativbegriffe wie ‚Umsiedler‘1, ‚Rücksiedler‘2, ‚Rückkehrer‘3 oder ‚Heimkehrer‘4 finden. Dabei wurde in der öffentlichen Wahrnehmung oft nicht unterschieden zwischen den in die Bundesrepublik ausgesiedelten Zivilist:innen aus Osteuropa und den auch offiziell als ‚Heimkehrer‘ bezeichneten Kriegsgefangenen (vgl. ebd.).
Obwohl erst mit der Reform des Bundesvertriebenengesetzes Ende 1992 Teil der offiziellen Rechtsterminologie, findet sich auch die Bezeichnung ‚Spätaussiedler‘ schon im Sprachgebrauch der 1950er Jahre. So erschien 1958 eine offizielle Broschüre mit dem Titel „Das Dritte Problem. Betrachtungen zur Aufnahme der Spätaussiedler aus dem Osten“ (Arbeits- und Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen 1958). Das Präfix ‚Spät-‘ stellt hier den zeitlichen Bezug zur Massenvertreibung der Nachkriegsjahre her, deren Nachzügler:innen die Aussiedler:innen definitionsgemäß waren. Auch die Bezeichnung als ‚drittes Problem‘ ist so zu verstehen: Nach dem ‚ersten Problem‘ der Aufnahme der Nachkriegsvertriebenen und dem ‚zweiten Problem‘ der Aufnahme der SBZ-Flüchtlinge waren die seit 1956 in größerer Zahl ins Land kommenden Aussiedler:innen bzw. Spätaussiedler:innen nunmehr das ‚dritte Problem‘. Der frühe Gebrauch des Begriffs ‚Spätaussiedler‘ zeigt uns auch, dass es tatsächlich keine politische Intention gab, jahrzehntelang Deutsche aus Osteuropa in der Bundesrepublik aufzunehmen (vgl. Panagiotidis 2019, 40f.).
Doch obwohl die Bundesregierung keine proaktive Politik zur ‚Heimkehr‘ der in der Diaspora Lebenden betrieb (wie etwa Israel mit seinem Rückkehrgesetz), kamen während der gesamten Zeit des Kalten Krieges Menschen als Aussiedler:innen aus dem östlichen Europa in die Bundesrepublik. Aufgrund der restriktiven Emigrationspolitik der kommunistischen Staaten (mit Ausnahme Jugoslawiens, das nach dem Bruch Titos mit Stalin nicht zum Warschauer Pakt gehörte und eine Politik der offenen Grenzen betrieb) war ihre Migration dabei stets prekär und verlief nicht stetig. Dennoch kamen bis 1987 in jedem Jahr (mit Ausnahme von 1952 und 1953) mindestens zehntausend Menschen mit Aussiedlerstatus nach Westdeutschland – überwiegend aus Polen, aber auch aus Jugoslawien (v.a. in den 1950er und 1960ern) und aus Rumänien (ab Ende der 1960er). Die Sowjetunion wurde erst zu Beginn der 1970er zu einem zahlenmäßig bedeutsamen Herkunftsland von Aussiedler:innen. Zum Massenphänomen wurde die (Spät-)Aussiedlung dann mit der erst partiellen und dann vollständigen Öffnung der Staaten des östlichen Europas ab 1987. In den Spitzenjahren 1989 und 1990 registrierte das Bundesverwaltungsamt jeweils fast 400.000 Aussiedler:innen.5