Die Rede von der ‚Willkommenskultur‘ im politischen Diskurs um den ‚Fachkräftemangel‘
Der Begriff der ‚Willkommenskultur‘ hat eine kurze, aber bewegte Geschichte, im Laufe derer er verschiedene Bedeutungsverschiebungen erfahren hat und ihm verschiedene komplementäre wie auch gegensätzliche Begriffe an die Seite gestellt wurden. Einzug in politische Debatten hielt die ‚Willkommenskultur‘ erstmals Mitte der 2000er Jahre. Mitglieder der rot-roten Berliner Stadtregierung unter Klaus Wowereit (SPD) plädierten für einen Kurswechsel im Umgang mit den zahlreichen in der Stadt lebenden, aber nur geduldeten palästinensischen und bosnischen Geflüchteten (Croitoru 2020). 2005, im Jahr des Inkrafttretens des neuen Bundeszuwanderungsgesetzes, gab der damalige Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration, Günter Piening, ein 80-seitiges Infopaket für Neuzugewanderte heraus, das einer „neuen Willkommenskultur“ Ausdruck verleihen sollte. 1 In der Folge etablierte sich der Begriff in migrations- und integrationspolitischen Debatten auch über die Stadtgrenzen Berlins hinaus. Dabei war er immer auch Kritik ausgesetzt, die häufig mit der Warnung vor einer drohenden ‚Überfremdung‘ Deutschlands und vor der Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme verknüpft wurde.2
Ihren Durchbruch erlebte die ‚Willkommenskultur‘ Anfang der 2010er Jahre im Rahmen öffentlicher Auseinandersetzungen um den prognostizierten ‚Fachkräftemangel‘. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Alterung der deutschen Bevölkerung diagnostizierte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen zunehmenden Bedarf an qualifiziertem Personal insbesondere in Ingenieurs-, aber auch in Pflegeberufen und im Handwerk (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011; Carrel 2013). Zur maßgeblichen Verbreitung des Begriffs der ‚Willkommenskultur‘ trug dabei laut Burak Çopur und Birte Steller vor allem die Hochrangige Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung bei (Çopur/Steller 2013: 58). Dieses von der Stiftung Mercator, der Freudenberg Stiftung, der Körber-Stiftung und der Vodafone Stiftung Deutschland im Frühjahr 2011 ins Leben gerufene Expert:innengremium unter der Leitung von Peter Struck (SPD) und Armin Laschet (CDU) war federführend bei der Entwicklung von Maßnahmen gegen den ‚Fachkräftemangel‘. Bereits wenige Monate nach seiner Gründung legte das Gremium, dem neben Politiker:innen aus allen Bundestagsfraktionen außer der Linken auch Vertreter:innen des Bundesverbands der Deutschen Industrie sowie der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie angehörten und das vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration wissenschaftlich beraten wurde, einen Aktionsplan vor. Die darin formulierten Maßnahmen sollten helfen, „die Situation am deutschen Arbeitsmarkt dauerhaft zu verbessern und die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft nachhaltig zu sichern“ (Hochrangige Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung 2011: 9).
Neben Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungs- und Erwerbschancen für die bereits im Land ansässige Bevölkerung empfahl das Gremium eine „umsichtig gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland“, um „den Bedarf an erwerbsfähigen Menschen zu decken“ (ebd.). Das dafür vorgelegte Maßnahmenpaket sah einerseits vor, mit Unterstützung der deutschen Auslandsvertretungen, der Auslandshandelskammern, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, des Goethe-Instituts und der politischen Stiftungen im europäischen Ausland um qualifiziertes Personal zu werben. Andererseits empfahlen die Autor:innen, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um den Zuzug von Arbeitnehmer:innen aus Nicht-EU-Staaten „an Engpässen auf dem Arbeitsmarkt orientiert“ zu erleichtern (ebd.: 13). Dazu zählten die vereinfachte Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen und Berufsqualifikationen, das Herabsetzen des für die Erlangung einer Niederlassungserlaubnis notwendigen Jahresmindesteinkommens und der Abbau bürokratischer Hürden.
Aufbauend auf diesen umfassenden Reformbemühungen propagierte der Abschlussbericht der Hochrangigen Konsensgruppe einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel: Weg vom „Anwerbestopp“ und hin zu einer „Einladungs- und Willkommenskultur“, die es ermöglichen sollte, „jene Zuwanderer für unser Land zu interessieren, die wir uns erhoffen und die wir benötigen“ (ebd.: 17). Damit rückte das Gremium den Begriff der ‚Willkommenskultur‘ programmatisch in die Nähe der ‚Gastarbeiterabkommen‘, mit denen in Deutschland ab 1955 über knapp zwei Jahrzehnte der Bedarf an Arbeitskräften gedeckt werden sollte.